Schewtschuk: „Das ukrainische Volk ist zutiefst erschöpft“

Das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche traf sich mit dem Hilfswerk Aid to the Church in Need, um über die Herausforderungen des Landes zu sprechen.

Am Fest des Heiligen Nikolaus traf Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, das Oberhaupt der größten katholischen Kirche in der Ukraine, mit Vertretern des internationalen Hilfswerks Aid to the Church in Need (ACN) in Lwiw (Lemberg) zusammen. Bei dem Treffen wurden die wichtigsten Herausforderungen für die Ukraine und Möglichkeiten zur Unterstützung des Landes in dieser kritischen Zeit erörtert.

Treffen mit Erzbischof Schewtschuk Informationsreise Ukraine 2023
Treffen mit Erzbischof Schewtschuk Informationsreise Ukraine 2023

In einem vom Krieg verwüsteten Land sei es wichtig, Worte der Hoffnung zu vermitteln, erinnerte Schewtschuk. Wie die ACN-Delegation auf ihrer einwöchigen Reise nach Lwiw und Kiew erfuhr, ist der Krieg zwar nicht immer und überall sichtbar, aber seine Auswirkungen sind in den Köpfen und Herzen aller Ukrainer präsent.

Ein Besuch mit therapeutischer Wirkung

„Das ukrainische Volk ist zutiefst erschöpft. Die Menschen sind ausgelaugt, weil es keine Aussicht auf ein Ende des Krieges gibt“, sagte Großerzbischof Schewtschuk. „Die Bevölkerung ist durch den Krieg schrecklich traumatisiert, und die entscheidende Frage lautet, wie wir dieses Trauma bekämpfen können. Die Zukunft des Landes ist mit der Frage verknüpft, wie wir es schaffen, mit dem Trauma umzugehen. Achtzig Prozent der Menschen sind verwundet, viele körperlich, vor allem jedoch seelisch. Zudem gibt es das psychologische Trauma; darüber kann ich aus erster Hand berichten. Wenn ich an einen anderen Ort gehe, fällt es mir furchtbar schwer, mich an die Geräusche dort zu gewöhnen und zu entspannen. Als Kirche müssen wir uns in erster Linie um die Priester kümmern. Mehr als 50 Prozent haben uns gesagt, dass sie erschöpft sind“, fügte er hinzu. „In diesem Zusammenhang haben der Besuch von ACN und sein Engagement in der Ukraine eine therapeutische Wirkung für uns. Neben der humanitären Hilfe ist die menschliche Beziehung entscheidend. Ich kann mit Ihnen über meinen Schmerz, aber auch über meine Träume sprechen.“

Suppenküche bei den Albertinen und Lebensmittelverteilung während der Reise in die Ukraine 2023.
Suppenküche bei den Albertinen und Lebensmittelverteilung während der Reise in die Ukraine 2023.

„Der Krieg, den wir jetzt in der Ukraine erleben, ist nicht mehr ein direkter Krieg oder Angriff, sondern ein Krieg der Erschöpfung. Wie kann ich es schaffen, nicht durch Müdigkeit zu erlahmen? Nur die echte Liebe wird im Kampf nicht müde, nur die echten Werte können uns helfen, die Entmutigung zu überwinden“, betonte er.

Angst vor dem Vergessensein

Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk wies auf die katastrophale Lage hin, mit der die Ukraine im zweiten Kriegswinter konfrontiert ist, insbesondere was die Energieversorgung betrifft. Im vergangenen Jahr wurden 60 Prozent der Strominfrastruktur des Landes durch den Krieg zerstört, und es wird geschätzt, dass in diesem Jahr bis zu 75 Prozent der Ukrainer auf Generatoren für Strom und Heizung angewiesen sein werden. Am 2. Dezember erlebte Kiew einen der schwersten Bombenangriffe seit Kriegsbeginn, was die Dringlichkeit der Lage verdeutlicht. Nach Ansicht des griechisch-katholischen Oberhaupts besteht die Befürchtung, dass der Krieg in der Ukraine in der Welt in Vergessenheit gerät, was zu einem Rückgang der humanitären Hilfe führen und das ukrainische Volk in seiner Not allein lassen könnte.

Versöhnung und Vergebung

Der Krieg in der Ukraine hat zu Spaltungen und Ressentiments in der Gesellschaft geführt. Schmerz ist für viele Ukrainer zur täglichen Realität geworden. „Heute ist die Bevölkerung durch die unterschiedlichen Erfahrungen, die man mit dem Krieg gemacht hat, zerrissen“, erklärte Schewtschuk. Auch innerhalb der Familien gehe ein solcher Riss. Es gäbe eine Trennung zwischen denjenigen, die gegangen sind, und denjenigen, die geblieben sind; zwischen den Ehemännern an der Front und den evakuierten Ehefrauen, zwischen den Menschen, die den Krieg in der Westukraine und denjenigen, die ihn in der Ostukraine erleben. Großerzbischof Schewtschuk betonte, wie wichtig es sei, gemeinsam an der Überwindung dieser Unterschiede zu arbeiten und eine neue Gemeinschaft aufzubauen, die auf Respekt und Toleranz beruht. „Das Gefühl des Verlassenseins und der Ressentiments gegen andere sind auch Waffen der psychologischen Kriegsführung. Man sucht einen Sündenbock, jemanden, dem man die Schuld für alles geben kann“, sagte er.

Inmitten des Unglücks rief Großerzbischof Schewtschuk zu Versöhnung und Vergebung als Teil des Prozesses der Heilung von Traumata auf. Er räumte ein, dass Vergebung sehr schwierig sein könne, betonte aber, dass der Hass die Herzen der Menschen nicht beherrschen dürfe. Der erste Schritt vor der Versöhnung sei die Resilienz: „Wenn Angst und Hass unsere Entscheidungen bestimmen, werden wir zu ihren Sklaven. Es ist zwar normal, aufgrund der Aggression, die wir erleiden, Hass zu empfinden. Ihm zu erliegen, würde aber bedeuten, dass er bereits über mein Herz gesiegt hat“, sagte er.

Philipp Ozores (Generalsekretär von ACN International) (links), Erzbischof Swiatoslaw Schewtschuk (rechts).
Philipp Ozores (Generalsekretär von ACN International) (links), Erzbischof Swiatoslaw Schewtschuk (rechts).

Der Generalsekretär von ACN, Philipp Ozores, der bei dem Treffen anwesend war, dankte dem Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche für die Gelegenheit, sich in einem für die Ukraine historischen Moment zu treffen, und versicherte, dass ACN die Ukraine auch im neuen Jahr unterstützen werde, sowohl finanziell als auch mit dem Gebet.

ACN hat seine Hilfe für die römisch-katholische und die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine nach dem russischen Einmarsch im Jahr 2022 verstärkt und 15 Millionen Euro für 600 Projekte seit Februar 2022 bereitgestellt. Die Hilfe diente der Unterstützung von Priestern, Ordensleuten und Seminaristen sowie der Finanzierung von kirchlichen Projekten zur Aufnahme von Binnenvertriebenen. Ein besonderes Anliegen waren Heizungsprojekte, die Renovierung beschädigter Gebäude und der Kauf von Fahrzeugen, um die Kirche bei ihrer Seelsorge- und Hilfsarbeit zu unterstützen. Im Bereich der Seelsorge finanziert ACN alle Arten von Initiativen im Bereich der Jugendarbeit, einschließlich Sommerfreizeiten für Kinder. Ein wichtiger Aspekt der Hilfe von ACN war auch die Bezuschussung von Ausbildungskursen zur Traumaheilung.

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