REGIONALE ANALYSE
Lateinamerika und Karibik
von Paulina Eyzaguirre
Zur Region Lateinamerika und Karibik zählen 33 Ländern mit einer geschätzten Bevölkerung von gut 657 Millionen Menschen, deren Durchschnittsalter bei 31 Jahren liegt.[1] Diese Ländern teilen ein ähnliches historisches und kulturelles Erbe, wobei sich knapp 60 % der Bevölkerung mit dem katholischen Glauben identifizieren.[2] Als Staatsform in der Region herrscht die Demokratie vor; in 17 Staaten wurden zwischen 2018 und 2020 Wahlen abgehalten. Mehrere lateinamerikanische Länder stecken jedoch in einer gesellschaftspolitischen Krise fest, die vielerorts durch Gewalt, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Drogenhandel, Korruption und – zu allem Überfluss – auch noch durch die Covid-19-Pandemie verschärft wird. Die Region bringt daher nach wie vor eine bedeutende Zahl von Migranten hervor, die auf ein besseres Leben hoffen und die es vor allem in die USA zieht.
Die starke Präsenz des Christentums in Lateinamerika und der Karibik ist kein Garant für die Wahrung der Religionsfreiheit. So meldeten z. B. afro-brasilianische Religionsgemeinschaften im Berichtszeitraum Vorfälle religiöser Intoleranz, und in Argentinien war vor allem die Jüdische Gemeinschaft von Intoleranz und Verfolgung betroffen (siehe Länderberichte). Die christliche Mehrheit ist nach wie vor die Glaubensgemeinschaft, die am stärksten von Hasskriminalität betroffen ist, sei es in Form von Angriffen auf ihre Oberhäupter[3] oder in Form von Anschlägen auf Kultstätten, Friedhöfe, Denkmäler und religiöse Symbole. Derartige Angriffe stehen in Verbindung mit dem Eintreten des Christentums[4] für die Verteidigung der Unterdrückten, mit öffentlichen Äußerungen des Widerstands oder der Kritik sowie mit dem Handeln staatlicher und nichtstaatlicher Akteure.
Feindseligkeit gegenüber religiösen Organisationen
Wie aus den Länderberichten hervorgeht, waren die schwerwiegendsten Verletzungen der Religionsfreiheit in Ländern zu verzeichnen, die insgesamt eine fragwürdige Bilanz hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte und der Demokratie aufweisen, darunter Kuba, Nicaragua und Venezuela. Ihre Regierungen brachten Feindseligkeit und Aggression gegenüber christlichen Kirchen (sowohl katholischen als auch nicht-katholischen) zum Ausdruck, deren Oberhäupter Korruption und gesellschaftliche oder politische Maßnahmen anprangerten, die dem Gemeinwohl schadeten. Konkret nahm die Feindseligkeit des Staates durch Anwendung von Gewalt folgende Formen an: Störung religiöser Feiern; Einschüchterung von Gläubigen durch aggressive Polizeieinsätze im Umfeld von Kirchen und Prozessionen – wobei auffällig war, dass die Polizei nicht einschritt, wenn etwa ein wütender Mob Gotteshäuser angriff und verwüstete; Drohungen gegenüber religiösen Oberhäuptern und Gläubigen; Stornierung der Visa von ausländischen Kirchenmitarbeitern; undurchsichtige Registrierungsverfahren für Religionsgemeinschaften.
Der Mangel an Rechtsstaatlichkeit und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Religionsfreiheit werden am Beispiel Mexikos am deutlichsten. Hier gingen kriminelle Banden gewaltsam gegen die Zivilbevölkerung vor, wobei die organisierte Kriminalität (u. a. Drogenhandel, Menschenhandel, Landstreitigkeiten, Korruption, Erpressung und Vergeltungsmaßnahmen) eine tragende Rolle spielte. Doch nicht nur die unmittelbaren Opfer dieser Verbrecher waren dem Risiko, verletzt oder getötet zu werden, ausgesetzt, sondern auch diejenigen, die sich – inspiriert von ihren religiösen Überzeugungen – um den Schutz der Menschenrechte der Unterdrückten bemühten. Wie im Länderbericht Mexiko nachzulesen ist, wurden im Land weiterhin Priester entführt und ermordet, weil sie ihre pastorale Verantwortung wahrnahmen, sich schützend vor ihre Gemeinde stellten oder gegen das Vorgehen des organisierten Verbrechens die Stimme erhoben. So berichtete die Katholische Kirche im Bundesstaat Chiapas von telefonischen Morddrohungen gegen einen Priester, seine Familie und seine Gemeinde durch mutmaßliche Mitglieder des Drogenkartells Jalisco Nueva Generación, die verlangten, dass die Kirche das Kartell als Besitzer des Territoriums anerkenne – als „Gegenleistung“ für die Wahrung des Friedens.[5]
Im Berichtszeitraum wurden acht Priester in fünf Ländern (Honduras, Nicaragua, El Salvador, Mexiko und Peru) ermordet. Die Ermittlungen in diesen Fällen sind noch nicht abgeschlossen (siehe Länderberichte).
Zunahme der Angriffe auf Gotteshäuser, religiöse Bilder und Symbole
Anschläge auf Gotteshäuser, Denkmäler und religiöse Symbole wurden in Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Guatemala, Honduras, Mexiko, Nicaragua und Venezuela gemeldet (siehe Länderberichte). Die Motivation der Täter war vielfach ideologischer Natur, doch als wesentlicher gemeinsamer Nenner war die Haltung der staatlichen Behörden auszumachen, die in den meisten Fällen die Angriffe während öffentlicher Demonstrationen geschehen ließen ohne einzugreifen und die Täter anschließend nicht strafrechtlich verfolgten.[6] Auf Gebäude, Autos und Denkmäler wurden Parolen geschmiert, mit denen für Abtreibungen, Homo-Ehe und Gay Pride eingetreten oder auch Gewalt gegen Frauen und sexueller Missbrauch durch Geistliche angeprangert wurde.[7]
Beschleunigung der Säkularisierung
In mehreren Ländern wurde zunehmend über das staatliche Säkularitätsprinzip und den Platz der Religionsfreiheit im öffentlichen Raum debattiert. In diesem gesellschaftlichen Diskurs wurde das Recht auf Religionsfreiheit von diversen Gruppen als etwas dargestellt, das zum säkularen Charakter des Staates im Widerspruch stehe. Andere wiederum setzten dieser Auffassung das Argument entgegen, Säkularität bedeute nicht, dass der Staat aufhören müsse, das Recht des Einzelnen zu garantieren, zu glauben oder nicht zu glauben und sein öffentliches Leben in Übereinstimmung mit seinen Überzeugungen zu gestalten.
Die Stimme der Katholischen Kirche als Autorität war in diesen Debatten gewissermaßen zum Schweigen verurteilt. Grund dafür waren die Verbrechen des sexuellen Missbrauchs innerhalb der Kirche und die zögerliche und verspätete Reaktion in Bezug auf die Anerkennung und Wiedergutmachung ihrer Schuld.
Migration
Allein aus Venezuela sind seit Beginn der politischen und wirtschaftlichen Krise im Jahr 2015 über 4,8 Mio. Menschen geflohen.[8] Ähnlich, wenn auch nicht so extrem, ist die Situation in Ländern Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Haiti – auch hier kehrten ganze Karawanen von Migranten ihrer Heimat wegen vergleichbarer Krisen den Rücken (siehe Länderberichte). In Mexiko erreichte die Zahl der Binnenvertriebenen beträchtliche Ausmaße, da Menschen vor der Gewalt des organisierten Verbrechens aus ihren Dörfern flohen. Darüber hinaus mussten aufnehmende Nachbarstaaten in der Region die Herausforderung bewältigen, Migranten mit anderem religiösen Hintergrund in eine zuvor mehr oder weniger homogene Gesellschaft zu integrieren. Wie der Länderbericht Chile zeigt, verdoppelte sich dort mit der Ankunft der Migranten die Zahl der haitianischen Religionsgemeinschaften binnen weniger Jahre.[9]
Covid-19-Pandemie
Die Covid-19-Pandemie hatte erhebliche Auswirkungen auf die Region. Wie aus den Länderberichten hervorgeht, wurden die Einschränkungen, die der Bevölkerung auferlegt wurden, im Allgemeinen respektiert. Religiöse Oberhäupter arbeiteten mit den Regierungen zusammen, um die Gläubigen davon zu überzeugen, die Maßnahmen zu befolgen. In manchen Fällen wurden religiöse Autoritäten sogar als „strenger“ wahrgenommen als die Gesundheitsbehörden und ernteten dafür Kritik. Der Fall Uruguay ist insofern bemerkenswert, als die Behörden dort (anstatt einseitig zu handeln und Einschränkungen bloß anzuordnen) auf die verschiedenen Religionsgemeinschaften zugingen, um ein einheitliches Vorgehen abzustimmen.[10] Die Religionsgemeinschaften wiederum trugen ebenfalls zu den Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie ein, indem sie ihre Gesundheitseinrichtungen (wie Krankenhäuser und Kliniken) und weitere Gebäude zur Verfügung stellten, z. B. um Obdachlosen eine Unterkunft und Mahlzeiten anzubieten.
Positive Aspekte
In sechs Ländern – Brasilien, Chile, Costa Rica, Honduras, Jamaika und Kolumbien – hat das Recht auf Religionsfreiheit durch Entscheidungen höherinstanzlicher Gerichte zusätzlichen Schutz erfahren (siehe Länderberichte). In Anerkennung der positiven Kraft des Glaubens in Krisenzeiten behielten mehrere Länder (vor allem in der Karibik) traditionelle, populäre religiöse Veranstaltungen bei – wenn auch mit gewissen pandemiebedingten Einschränkungen.
Quellen
[1] “Latin America and the Caribbean Population”, Worldometer; https://www.worldometers.info/world-population/latin-america-and-the-caribbean-population
[2] "Religion affiliation in Latin America as of 2018, by type", Statista, November 2018; https://www.statista.com/statistics/996386/latin-america-religion-affiliation-share-type/
[3] "Christians in Latin America are numerous, but still vulnerable", CRUX, 31. Dezember 2015; https://cruxnow.com/faith/2015/12/christians-in-latin-america-are-numerous-but-still-vulnerable/
[4] in diesem Zusammenhang: überwiegend (jedoch nicht ausschließlich) die Katholische Kirche
[5] “Iglesia católica denuncia amenazas del CJNG contra sacerdotes,” televisa.news, 24. April 2020; https://noticieros.televisa.com/ultimas-noticias/amenazas-cjng-sacerdotes-iglesia-catolica-chiapas/
[6] “Feministas pintan y atacan iglesia en Colombia durante marcha del 8M”, ACI Prensa, 9. März 2020; https://www.aciprensa.com/noticias/feministas-pintan-y-atacan-iglesia-en-colombia-durante-marcha-del-8m-54264 (abgerufen am 7. März 2021).
[7] “Marcha de mujeres termina con daños a la catedral de Hermosillo”, Proyecto Puente, 9. März 2020; https://proyectopuente.com.mx/2020/03/09/marcha-de-mujeres-termina-con-danos-a-catedral-de-hermosillo-y-palacios-de-gobierno-municipal-y-del-estado/ (abgerufen am 7. März 2021).
[8] Luis Triveno and Olivia Nielsen, “It’s time to start solving Latin America’s migration crisis with creative housing solutions”, World Bank Blogs, 4. Februar 2020; https://blogs.worldbank.org/sustainablecities/its-time-start-solving-latin-americas-migration-crisis-creative-housing-solutions
[9] Pamela Gutiérrez, “Comunidades haitianas forman sus propias iglesias y los pastores podrían crear una nueva asociación”. El Mercurio, 7. Januar 2019; http://www.economiaynegocios.cl/noticias/noticias.asp?id=536167 (abgerufen am 28. Oktober 2020).
[10] “Seminario 2020: Los desafíos de la libertad religiosa en el sistema interamericano de Derechos Humanos,” Libertad religiosa en el Sistema Interamericano: Uruguay. Dra. Carmen Asiaín, 24. September 2020, https://www.facebook.com/JuanPabloIIFamilia/videos/384698952560490 (abgerufen am 10. Oktober 2020).