GLOBALE ANALYSE
Von Dr. Marcela Szymanski
Der Berichtszeitraum von Mai 2021 bis Dezember 2022 stand ganz im Zeichen der Covid-19-Pandemie, eines weltweit nie dagewesenen Gesundheitsnotstands. Als Reaktion darauf wurden internationale Maßnahmen zur Bewältigung der Krise angestoßen, darunter Lockdowns sowie andere weitreichende Restriktionen und Impfkampagnen, die ihrerseits bislang einmalig waren. 2022 stand die Welt dann im Bann des Ukrainekriegs und seiner politischen Folgen. Neben einer starken Inflation und der damit verbundenen wirtschaftlichen Krise gab zudem der bewaffnete internationale Konflikt, der im Südchinesischen Meer drohte, Anlass zur Sorge. Aufgrund dieser und anderer Faktoren trat das Thema Religionsfreiheit zu einer Zeit in den Hintergrund, in der weltweit immer häufiger Verstöße gegen dieses grundlegende Menschenrecht stattfanden. Mithilfe dieser Analyse soll gezeigt werden, dass die Covid-19-Pandemie besonders desaströse Auswirkungen auf einige religiöse Minderheiten hatte. Während die internationale Aufmerksamkeit anderen Themen galt, wurden diese Opfer von Straftaten, ohne dass strafrechtliche Konsequenzen drohten.
Im Gegensatz zu früheren Ausgaben dieses Berichts, in denen an dieser Stelle eine geografische Einteilung vorgenommen wurde, setzt sich die nachstehende Analyse vorwiegend mit den wichtigsten Themen und Entwicklungen auseinander. In dem von KIRCHE IN NOT (ACN) herausgegebenen Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ werden Verstöße gegen die Religions- und Weltanschauungsfreiheit in unterschiedliche Kategorien eingeteilt. Ausgangspunkt sind dabei die unterschiedlichen Ausprägungen von Intoleranz, die dann ab einem gewissen Punkt in „Diskriminierung“ übergehen. Diese liegt unter anderem vor, wenn für einzelne Angehörige einer Religionsgemeinschaft oder ganze Religionsgemeinschaften andere gesetzliche Regeln gelten. Als schwerwiegende Form von Intoleranz werden „Verfolgungen“ betrachtet, bei denen Menschen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren offen und straffrei unterdrückt und verfolgt werden.
Aus den Recherchen für den 2023 herausgegebenen Bericht geht hervor, dass in 61 Ländern Diskriminierungen und Verfolgungen nachweislich stattfinden. Dort ist das grundlegende Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit gefährdet oder wird durch neue Gesetze beschnitten. Infolgedessen sind Bürger Opfer von staatlichen Verfolgungen oder von tödlichen Übergriffen, während die internationale Gemeinschaft darauf oft nur geringfügig oder gar nicht reagiert.
In dieser Ausgabe des Berichts wird auf die tendenziell zunehmende Bedrohung von religiösen Minderheiten durch Autokraten hingewiesen. Autokraten werden hier als Herrscher definiert, die von ihrer Macht, von Gewaltanwendung und wirtschaftlichen Ressourcen mit wenigen oder ohne Einschränkungen Gebrauch machen. Dazu L. Reardon (2019): „Ganz gleich, ob ein absoluter Monarch oder eine andere Obrigkeit, ein religiöser, militärischer, faschistischer oder kommunistischer Führer autokratisch herrscht – er bezieht seine Legitimation daraus, dass er konkurrierende Machtzentren in einem Staat kontrolliert.“[1] Häufig sind Religionsgemeinschaften solche „Machtzentren“, weil sie „Bürger mobilisieren können“[2], die der Autokrat zu beherrschen versucht.
Während der Berichtszeitraum neue Autokraten hervorgebracht hat, konnten seit längerem herrschende autokratische Machthaber ihre Position in dieser Zeit stärken. In beiden Fällen gingen Autokraten vehement gegen religiöse Oberhäupter und Religionsgemeinschaften vor, weil sie deren gesellschaftlichen Einfluss und Status fürchteten. Bisweilen versuchten sie auch, diese für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Autokraten stehen vor der Herausforderung, ihre häufig gewaltsamen und repressiven Maßnahmen zur vollständigen Ausschaltung der Opposition, darunter auch Religionsgemeinschaften, so zu dosieren, dass sie eine humane Fassade aufrechterhalten können, die für die Weltgemeinschaft annehmbar ist. Pandemiebedingte wirtschaftliche Herausforderungen, welche durch die Energieknappheit aufgrund des Ukrainekriegs noch verschärft wurden, sowie konkurrierende internationale Handelsinteressen führten zu einem zynischen Pragmatismus – zu einer selektiven Blindheit und Taubheit unter den führenden westlichen Vertretern. Regierungen, die davor ganz besonders stolz auf eine „regelbasierte Weltordnung“ waren, machten sich nicht mehr für international anerkannte Menschenrechtsstandards stark.
Unter die Kategorie „Rot“ (Verfolgung) fallen 28 Länder, in denen insgesamt 4,02 Milliarden Menschen leben. Dies entspricht einem Anteil von 51,6 % an der Weltbevölkerung. Besonders hervorzuheben sind dabei China und Indien, die beiden weltweit bevölkerungsreichsten Staaten, in denen die schlimmsten Verstöße gegen die Religionsfreiheit stattfinden.
Autokraten verfolgen auf verschiedenen Regierungsebenen eine Politik, die massive Repressionen mit „sanfter Verfolgung“ kombiniert. So werden unter anderem Zugänge zu Arbeitsplätzen, Bildung und Gesundheitsdiensten kontrolliert, Instrumente zur Massenüberwachung eingeführt, finanzielle und wahlrechtliche Hürden auferlegt und Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit vernachlässigt, wenn Religionsgemeinschaften von örtlichen Gruppen oder Terroristen angegriffen werden. Die Machthaber – staatliche und nichtstaatliche (terroristische) Akteure – verfolgen mit ihrer Strategie ein einziges Ziel: Die von der unerwünschten Religionsgemeinschaft ausgeübte konkurrierende Autorität soll zunichtegemacht werden.
Bei der Art der Täter gibt es eine neue Entwicklung: So sind es zunehmend Staaten, die ihre eigenen Bürger verfolgen. Einige Länder, die unter die Kategorie „Verfolgung“ fallen – insbesondere mit Regierungen, die eine religiöse Mehrheit vertreten –, manipulieren nicht nur ihre Bürger in Bezug auf religiöse Überzeugungen, sondern treiben auch die Anzahl ihrer religiösen Anhänger künstlich in die Höhe, um die eigene politische Dominanz zu festigen und zu vergrößern.
In der Kategorie „Orange“ (Diskriminierung) wurden im Berichtszeitraum erhebliche Änderungen verzeichnet. Unter den 33 Ländern dieser Kategorie gibt es mit Haiti, Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten drei Neuzugänge. Während es 2021 für manche Länder im Nahen Osten und in Asien Anlass zur Hoffnung gab, weil sich dort offenbar ein Bewusstsein für Religionsfreiheit entwickelte, wird diese Hoffnung durch die Verschärfung von bestehenden Gesetzen und Strafen (zum Beispiel durch sogenannte „Anti-Konversionsgesetze“) zerschlagen. Unterdessen gibt es im Bildungssystem wenig Verbesserungen, um die Diskriminierung von religiösen Minderheiten zu verringern (siehe Hintergrundinformationen „Schulbücher und die Zukunft der Religionsfreiheit“).
Eine Einstufung in die Kategorie „Orange“ verweist ferner darauf, dass autoritäre Machthaber einerseits Gesetze ändern, um die Religionsfreiheit zu beschneiden, und andererseits den Opfern von physischer Gewalt keinen Schutz und keine rechtlichen Möglichkeiten bieten.
Schließlich gibt es noch die Kategorie „unter Beobachtung“. Wie im Bericht 2021 betont, ist eine kontinuierliche Wachsamkeit gefordert, weil Menschenrechte häufig nach und nach und in kleinen Schritten wegfallen und dies erst dann bemerkt wird, wenn es schon zu spät ist. Oft wird dabei der folgende Grundsatz der Religionsfreiheit immer mehr untergraben: „die Freiheit, seine Religion oder seinen Glauben zu ändern, und die Freiheit, seine Religion oder seinen Glauben allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst sowie Riten und Bräuche zu bekunden“.[3] Jeder dieser Aspekte der Religionsfreiheit ist grundlegend und unerlässlich. Falls einer von ihnen eingeschränkt wird, kann dies als allgemeine Bedrohung für die Religionsfreiheit gewertet werden. Wird festgestellt, dass die Ausübung dieses Grundrechts nicht mehr gewährleistet ist, weil ein Land sich beim Schutz der Bürger seiner Verantwortung entzieht, dann wird das betreffende Land „unter Beobachtung“ gestellt. Eine Einstufung in diese Kategorie erfolgt, wenn laut Länderberichten nicht nur gravierende Verstöße zugenommen haben, sondern auch Fälle von Intoleranz, Diskriminierung und bisweilen sogar Verfolgung in unterschiedlicher Ausprägung verzeichnet wurden. Dazu gehören zum Beispiel vereinzelte Anschläge oder sogar tödliche Übergriffe mit eindeutig religiösem Motiv und die Zerstörung oder Verwüstung von religiösen Andachtsstätten. Die beiden Länder Haiti und Israel, die 2021 noch „unter Beobachtung“ standen, wurden eine Stufe höher in die Kategorie „Orange“ eingeordnet. Gleichzeitig wurden die folgenden acht Länder in diese Kategorie neu aufgenommen: Argentinien, Guinea-Bissau, Benin, Burundi, Eswatini, Ghana, Indonesien und Madagaskar.
Entschlossene und selbstbewusste Autokraten
Autokraten, die die schlimmsten Verstöße gegen die Religionsfreiheit begehen, gehören wahrscheinlich zu einer oder mehreren der folgenden Täterkategorien: zu autoritären Regimen, islamistischen Extremisten oder ethno-religiösen Nationalisten. Eine weitere Täterform sind organisierte kriminelle Vereinigungen, die ihre Autorität gefährdet sehen. In einigen Teilen der Welt handelt es sich dabei um De-facto-Machthaber, denen mehr Finanzmittel und bessere Waffen als dem Staat zur Verfügung stehen. Diese vermitteln so den Eindruck, dass die Regierung ihre Verantwortung, alle Bürger zu schützen, abgegeben hat, oder dass die staatlichen Behörden in Wirklichkeit mit den kriminellen Organisationen kooperieren. Organisierte kriminelle Vereinigungen sind vor allem in „Failed States“ – ganz oder teilweise „gescheiterten Staaten“ –, wie Somalia, Libyen, Afghanistan, Haiti und Syrien, präsent.
Staatliche Autokraten haben im Gegensatz zu organisierten kriminellen Vereinigungen mehr Möglichkeiten, Menschenrechtsverstöße unter einem demokratischen Deckmantel zu verbergen. Dazu verweisen sie auf in irgendeiner Form erfolgte Wahlen, durch die sie an die Macht gekommen sind. Das Dilemma jedoch, in dem Autokraten stecken, die religiöse Mehrheiten manipulieren (siehe dazu die Länderberichte zu Pakistan, Indien, Sri Lanka und Myanmar), ergibt sich daraus, dass sie zum einen ihre Wählerschaft zufriedenstellen, zum anderen eine „demokratische“ Fassade gegenüber ihren internationalen Partnern aufrechterhalten müssen (siehe Fallstudie Nicaragua).
Eine weitere vermeintlich demokratische Methode zur Unterdrückung von religiösen Minderheiten ist die Verabschiedung von Gesetzen, die diese von Finanzierungsquellen abschneiden. Indiens „Foreign Currency Regulation Act“ – ein kompliziertes Regelwerk, das ausländische Finanzierungsmöglichkeiten für lokale Organisationen beschränkt – hat zum Beispiel dazu geführt, dass religiöse Einrichtungen ihre sozialen Dienste für die ärmsten Bevölkerungsschichten einstellen mussten.
In „Religionsfreiheit weltweit“ 2021 haben wir auf den Begriff „höfliche Verfolgung“ verwiesen, der von Papst Franziskus geprägt wurde. Damit nimmt er Bezug auf vorwiegend in westlichen Ländern eingeführte Gesetze, die grundlegende Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen, beschneiden und dies als Fortschritt darstellen. In vielen Ländern haben sich die mit diesem Vorgehen verbundenen Befürchtungen bewahrheitet. Dort ist Intoleranz in Diskriminierung umgeschlagen; es wurden Gesetze eingeführt, die grundlegende Bürgerrechte beschneiden. Mitarbeiter des Gesundheitswesens verlieren beispielsweise ihr Recht auf Gewissensfreiheit, wenn sie unter Androhung eines Arbeitsplatzverlustes Behandlungen wie Sterbehilfe oder späte Schwangerschaftsabbrüche mittragen müssen. Auch wird dadurch möglich, dass Menschen verhaftet werden, die vor einer Abtreibungsklinik friedlich beten (siehe regionale Analyse OSZE-Staaten).
Eine neue Herausforderung für die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist die „erzwungene Sprache“. Diese entwickelte sich aus einem aktuellen kulturellen Phänomen, das auf einer Vielzahl von neuen anthropologischen Normen und Konzepten beruht. Behörden, darunter auch Gerichte, haben damit begonnen, neue Definitionen der persönlichen Identität einzuführen. Dabei wird von den Bürgern nicht nur erwartet, Regeln offiziell anzuerkennen, die möglicherweise mit ihrem Gewissen nicht vereinbar sind. Sie werden sogar dazu gezwungen, die neuen Definitionen zu verwenden, weil sie ansonsten riskieren, wegen Hassrede belangt zu werden. Die Vorgabe eines sprachlichen Rahmens wird zum Mittel, um die Verweigerung aus Gewissensgründen abzulehnen (siehe regionale Analyse Lateinamerika und Hintergrundinformationen „Erzwungene Sprache“).
Der Fall der ehemaligen finnischen Innenministerin Päivi Räsänen, der in dieser Ausgabe behandelt wird (siehe Fallstudie Finnland), zeigt ein weiteres Problem, das mit einer allzu vagen Definition von Hassrede einhergeht: die Zensur. Im April 2020 wurde Räsänen vom Staat verklagt, weil sie 2004 einen Beitrag über Ehen im Internet geteilt hatte, der ein Bibelzitat enthielt. Hierbei wurde das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen (auch aus religiösen Motiven) und auf Gedankenfreiheit verletzt bzw. verwehrt.
Künstlich erzeugte Minderheiten
Die Formulierung „Angriffe auf Minderheiten“ ist ein oft wiederholter Vorwurf. Dabei stellt sich die Frage, was genau dahintersteckt. In einigen Kulturen bringt der Minderheitenstatus gewisse Privilegien mit sich und kann deshalb positiv gewertet werden. In anderen Fällen ist diese Bezeichnung irreführend und ignoriert die tatsächliche Größe der betreffenden Religionsgemeinschaft, ihren historischen und allgemeinen kulturellen Einfluss auf die Gesellschaft und ihre herausragende Rolle in Schulen und anderen Sozialeinrichtungen.
Mehr Sorge bereiten hingegen Hinweise, dass zahlenmäßige, wirtschaftliche oder politische Minderheiten möglicherweise „künstlich erzeugt“ werden. Dabei werden Gemeinschaften durch gewaltsame und gewaltfreie Maßnahmen in die Bedeutungslosigkeit gedrängt, um politische und/oder wirtschaftliche Vorteile für die Mehrheit zu erreichen.
Zahlen spielen eine große Rolle. Am 25. April 2023 war in der britischen Zeitung Financial Times zu lesen, wie wichtig die religiöse Bevölkerungsstruktur in Indien und Nigeria ist. Diese hat Einfluss darauf, wie Machtverhältnisse sich formieren oder erhalten bleiben. Dem Zeitungsartikel zufolge „bestimmen Bevölkerungszahlen weitgehend die politische Vertretung und die Höhe der vom Staat an die jeweilige Region ausgezahlten Finanzmittel“. Dem Beitrag war auch zu entnehmen, dass viele Regierungen Bevölkerungserhebungen seit Jahrzehnten verschieben, weil sie durch mögliche ungünstige demografische Veränderungen ihren Machterhalt gefährdet sehen. Laut Bericht wird darüber hinaus „führenden politischen, religiösen und ethnischen Regionalvertretern vorgeworfen, die Zahlen künstlich in die Höhe zu treiben“.[4]
Die religiöse Bevölkerungsstruktur kann auf vielfältige Weise manipuliert werden, unter anderem durch positive Versprechen, wenn eine bestimmte Religion angenommen oder beibehalten wird. Einige Berichte aus Ländern in Asien, dem Nahen Osten und Nordafrika machen zum Beispiel deutlich, dass staatliche Einrichtungen mit materiellen Vorteilen für bestimmte Religionsgemeinschaften versuchen, deren Mitgliederzahlen aufrechtzuerhalten, um politischen Nutzen daraus zu ziehen. In Malaysia werden Neugeborene grundsätzlich als Angehörige der religiösen Mehrheit registriert; Eltern können dies erst nachträglich ändern lassen. In Pakistan sehen neue Gesetze vor, dass nur Mitglieder der religiösen Mehrheit Zugang zu militärischen und staatlichen Posten, nationalen Sportmannschaften und besser bezahlten Arbeitsstellen haben. In Indien und im Libanon gibt es Personenstandsgesetze und Regelungen, die ausschließlich den Angehörigen der religiösen Mehrheit finanzielle Vorteile einräumen (siehe Fallstudie „Indien: Gesetzliche Einflussnahme auf die religiöse Bevölkerungsstruktur“).
Negativer Druck wird auf Religionsgemeinschaften durch Gesetze ausgeübt, die den Religionswechsel unter Strafe stellen. Die in Asien immer häufiger anzutreffenden sogenannten Anti-Konversionsgesetze sehen Geld- und Haftstrafen nicht nur für Konvertierten, sondern auch für deren geistliche Begleiter vor. Im Nahen Osten steht auf Apostasie zum Teil sogar die Todesstrafe. Umgekehrt winken reuigen Rückkehrern aus religiösen Minderheiten bei ihrem Wiedereintritt in die Gemeinschaft der religiösen Mehrheit finanzielle Vorteile (siehe Regionale Analyse Asien und Naher Osten).
Ferner wird den religiösen Minderheiten in einigen Ländern die Teilnahme am politischen Leben erschwert. Die Restriktionen reichen dabei von der Einschränkung des Wahlrechts bis hin zu einem Verbot[5] für Anhänger von religiösen Minderheiten, Regierungsämter zu übernehmen (siehe Fallstudie „Libanon: Exodus der Christen“ und Länderberichte zu Afghanistan, Algerien, Iran, Malaysia, den Malediven, Pakistan und Saudi-Arabien).
Eine besonders kriminelle Form der demografischen Manipulation liegt vor, wenn Religionsgemeinschaften infolge von konstanter Diskriminierung und gewaltsamen Übergriffen in die Rolle der Minderheit gedrängt werden. Im Irak und in Syrien führten zum Beispiel gezielte und anhaltende Gewalthandlungen gegen Christen dazu, dass viele auswanderten. Damit wurde eine religiöse Minderheit so weit dezimiert, dass ihr langfristiger Fortbestand im Land fraglich ist.
Bei der durch extremistische Gewalt ausgelösten Migration zeichnet sich in Teilen Afrikas eine Wiederholung der Geschichte ab. Aus den Länderberichten geht hervor, dass dschihadistische Ableger von al-Qaida und des Islamischen Staats relativ ungeschützte ländliche Regionen mit dem Ziel territorialer Eroberungen angreifen. Dabei nehmen sie aber auch wie in der Demokratischen Republik Kongo und in Mosambik Gebiete ins Visier, die reich an Bodenschätzen sind. Obwohl sich die islamistische Gewalt in der Regel unterschiedslos gegen Muslime und Christen gleichermaßen richtet, werden im Vergleich zu unserem vergangenen Bericht immer häufiger Christen Opfer der dschihadistischen Übergriffe (siehe Fallstudie „Nigeria: Gesteinigt wegen einer WhatsApp-Nachricht“). Anschläge finden während christlicher Gottesdienste statt, und häufig gehen die Attentäter besonders grausam vor. Laut der Aussage von Geistlichen im nigerianischen Bundesstaat Benue werden die Opfer teilweise erschossen und anschließend mit einer Machete oder anderen Waffen im Gesicht so verstümmelt, „dass Gott sie nicht mehr wiedererkennen kann“.[6] Ebenso werden Priester und Ordensschwestern Opfer von Terroristen, die diese entführen oder töten. Kapellen und Schulen sind häufig Ziel von terroristischen Brandanschlägen. Ein einziger Anschlag kann ganze Dorfgemeinschaften in Obdachlosigkeit und Armut treiben. Ohne ihre Felder und Geschäfte verlieren die Bewohner ihre Einkommensquelle, während ihren Kindern Schulbildung und gesundheitliche Versorgung verweigert wird. Als Folge dessen wird eine Region ihrer historischen religiösen Identität beraubt. Es entsteht eine neue wirtschaftliche und politische Minderheit, die auf grundlegende Unterstützung angewiesen ist (siehe Hintergrundinformationen „Nigeria, eine gescheiterte Demokratie?“).
Eine andere Form von religiöser Gewalt ist in Lateinamerika und anderen Entwicklungsregionen zu finden. Dort werden traditionelle Religionen als Gegner von legalisierten Schwangerschaftsabbrüchen und anderen Frauenrechten betrachtet. Bei zunehmend gewalttätigen Demonstrationen in Mexiko, Chile, Kolumbien, Argentinien und in einigen westlichen Ländern, beispielsweise anlässlich des Weltfrauentags am 8. März, fanden Anschläge auf religiöse Gebäude und Gläubige statt. Religionsangehörige, die ihre Kirchen, Tempel und sonstige religiöse Bauten unter großem persönlichem Risiko verteidigten, wurden von der Polizei und anderen Rettungskräften mancherorts im Stich gelassen. Ebenso gab es nach den Ausschreitungen häufig nur wenige oder gar keine rechtlichen Konsequenzen für die Täter, wodurch bei ihnen ein Gefühl der Straffreiheit entstand (siehe Regionale Analyse Lateinamerika, OSZE-Staaten).
Trotz dieser und anderer Probleme, über die im Lateinamerikabericht zu lesen ist, gibt die Region auch Anlass zur Hoffnung. So haben sich nach Aufhebung der Pandemiebeschränkungen Millionen von Menschen bei religiösen Feierlichkeiten auf dem ganzen Kontinent freudig versammelt und dabei ihren Glauben öffentlich zum Ausdruck gebracht (siehe Hintergrundinformationen „Religiöse Feiern und die Rückkehr der Freude“).
Paradoxerweise verstummt die lautstarke Verteidigung der Frauenrechte, wenn es um Entführungen, Zwangskonversionen und sexuelle Versklavung von Frauen und Mädchen aus religiösen Minderheiten geht. Die euphemistisch als „Zwangsehe“ bezeichneten Strafhandlungen – die Entführung, Vergewaltigung und Zwangskonversion von oft minderjährigen Mädchen, die vorwiegend zu einer hinduistischen oder christlichen Minderheit gehören – sind zumindest teilweise in dem Wunsch begründet, das Wachstum der entsprechenden Religionen durch weniger Geburten einzudämmen. Werden diese kriminellen Handlungen über eine längere Zeit im großen Stil begangen, könnte dies dazu beitragen, dass entsprechende Gemeinschaften vollständig ausgelöscht werden. In diesem Fall kann man im Sinne der entsprechendenen UN-Konvention von einem „Akt des Völkermordes“ sprechen[7] (siehe Länderbericht Pakistan, Regionale Analyse Afrika).
Kein westliches Land kann von sich behaupten, nichts über die Menschenrechtsverstöße zu wissen, die auf der Arabischen Halbinsel, in China, Pakistan oder Nigeria stattfinden. Schaut der Westen hier weg, was oft zur Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung getan wird, bestärkt dies die Täter in ihrem Selbstbewusstsein. Auf diese Weise wird die Straffreiheit der Täter von der internationalen Gemeinschaft schweigend hingenommen. Hier kann erneut auf die Fallstudie Pakistan verwiesen werden, wo das jüngst ergänzte Blasphemie-Gesetz nun auch Beleidigungen der Familie des Propheten Mohammed unter Strafe stellt und ein für alle Schulen geltender islamorientierter Einheitslehrplan dazu beiträgt, dass religiöse Minderheiten diskriminiert werden (siehe Regionale Analyse Naher Osten, Asien, Afrika). Dennoch gibt es auch positive Entwicklungen im Westen wie die aktuelle Tendenz, gezielte persönliche Sanktionen gegenüber Einzeltätern statt gegen ganze Länder zu verhängen.
Ein großer Lichtblick ist die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen weltweit als religiös definieren[8] und so die Bereitschaft wächst, in einen interreligiösen Dialog zu treten. Nicht nur Papst Franziskus setzte seine Annäherungspolitik fort, mit der er sich an die verschiedenen Richtungen des Islam wandte. Auch die größte muslimische Organisation, die indonesische Nahdlatul Ulama, suchte 2022 im Rahmen des G20-Gipfels aus Bali gezielt den Dialog mit führenden hinduistischen Oberhäuptern. Eine Fortsetzung der Gespräche ist 2023 in Indien geplant (siehe Hintergrundinformationen „Für einen umfassenderen Dialog zwischen Katholiken und Muslimen“).
[1] Reardon, L.C., „Religious regulation in autocracies“, Oxford Research Encyclopedias, 28. August 2019, https://doi.org/10.1093/acrefore/9780190228637.013.794.
[2] Reardon, L.C. op cit.
[3] „Universal Declaration of Human Rights“, Article 18, United Nations General Assembly, 10. Dezember 1948, https://www.un.org/en/about-us/universal-declaration-of-human-rights.
[4] Reed, J und Adeoye, A., „India believed to be the most populous nation“, Financial Times, 25. April 2023, S. 2.
[5] „In 30 countries, heads of state must belong to a certain religion”, Pew Research Center, 22. Juli 2014, https://www.pewresearch.org/short-reads/2014/07/22/in-30-countries-heads-of-state-must-belong-to-a-certain-religion/.
[6] Interview mit Bischof Chikpa Wilfred Anagbe, Bistum Makurdi, Bundesstaat Benue, Nigeria, Aid to the Church in Need, 2022.
[7] „Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“, Artikel II, d, United Nations General Assembly, 9. Dezember 1948, https://www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocity-crimes/Doc.1_Convention%20on%20the%20Prevention%20and%20Punishment%20of%20the%20Crime%20of%20Genocide.pdf.
[8] „Key Findings From the Global Religious Futures Project“, Pew Research Center, 21. Dezember 2022, https://www.pewresearch.org/religion/2022/12/21/key-findings-from-the-global-religious-futures-project/.