REGIONALE ANALYSE
Lateinamerika und die Karibik
von Paulina Eyzaguirre
Der Bericht über die Religionsfreiheit in Lateinamerika und der Karibik umfasst Untersuchungen aus 33 Ländern in vier Regionen: Nordamerika, Zentralamerika, die Karibik und Südamerika. Ein Drittel der untersuchten Länder (11) liegt in Südamerika, wo fast 66 Prozent der Bevölkerung der Region leben. Angesichts des Ausmaßes der beobachteten Veränderungen spiegeln die Ergebnisse des Berichts eher die Situation in der kontinentalen Region als in den Inselstaaten wider.
Normalisierung der Gewalt gegen Religionen und ihre Vertreter
Ungeachtet des derzeitigen relativen Friedens in der Region hat sich der Respekt gegenüber Religionen insbesondere in Südamerika in den letzten Jahren spürbar verändert. Die Aussichten für Religionsfreiheit sind nur in zwei Ländern, Ecuador und Uruguay, als positiv zu bewerten. In vorhergehenden Berichten von KIRCHE IN NOT (ACN) zur weltweiten Religionsfreiheit wurden Vorfälle wie Vandalismus gegen Kirchen, Schändung heiliger Stätten und Gegenstände sowie Angriffe auf religiöse Personen festgestellt. Diese standen jedoch nicht zwangsläufig in Zusammenhang mit Religion und waren mitunter auf die vorherrschende Kriminalität bzw. als Folge von Maßnahmen zurückzuführen, die von Geistlichen ergriffen wurden, um ihre Gemeinden vor Gewalt zu schützen.
In jüngerer Zeit ist jedoch ein erheblicher Anstieg der Vorfälle festzustellen, die von Einzelpersonen bzw. Gruppen verübt wurden, die intolerante Haltungen gegenüber religiösen Überzeugungen einnehmen. Die Angriffe konzentrierten sich hauptsächlich auf Gläubige katholischer oder evangelikaler Gemeinden und wurden häufig von Abtreibungsbefürwortern, pro-feministischen Gruppen und Gender-Befürwortern verübt. In Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Costa Rica, Guatemala, Haiti und Mexiko wurden Vorfälle – in einigen Fällen auch Straftaten – gemeldet, darunter Angriffe auf religiöse Personen, Vandalismus, Schändung oder Beleidigung.
Besorgniserregend war die Tendenz einiger Regierungen, die Angriffe auf Gotteshäuser und Gläubige während öffentlicher Proteste zu ignorieren schienen und weder gegen die Täter ermitteln noch sie strafrechtlich verfolgen ließen. In Chile begnadigte der Präsident sogar einen Mann, der verurteilt worden war, weil er während sozialer Unruhen im Jahr 2019[1] die Kathedrale von Puerto Montt angezündet hatte.
Im Berichtszeitraum wurden 14 Mitglieder des Klerus in Bolivien, Haiti, Honduras, Mexiko, Paraguay, Peru und Venezuela ermordet. In einigen Fällen starben die Geistlichen, als sie versuchten, bei Schießereien einzugreifen, die sich im Zusammenhang mit Straßenkriminalität ereigneten. In anderen Fällen in ländlichen Gebieten gerieten Ordensmänner und -frauen ins Visier krimineller Banden, weil Sie Opfern des organisierten Verbrechens Zuflucht geboten hatten.
Das soziale, wirtschaftliche und politische Umfeld verschlechtert sich
Zunehmende Korruption, organisierte Kriminalität und wachsende Gewalt inmitten sozialer, wirtschaftlicher und politischer Krisen haben dazu beigetragen, dass sich die Bedingungen für Religionsfreiheit verändert haben. Zum ersten Mal seit der Herausgabe des Lateinamerika-Berichts wurde eines der Länder der Region, Nicaragua, in die Kategorie „Verfolgung“ aufgenommen. Dies ist auf die anhaltende schwere Unterdrückung der katholischen Kirche durch die Ortega-Regierung zurückzuführen. Zu deren Maßnahmen gehören unter anderem die Ausweisung des Apostolischen Nuntius und religiöser Kongregationen, die Vertreibung von Priestern ins Exil, die Aberkennung des Rechtsstatus für religiöse Einrichtungen, die Verfolgung und Bedrohung von Priestern, die Belagerung von Kirchen, die willkürliche Inhaftierung von Geistlichen und Gläubigen, die Schließung eines katholischen Fernsehsenders, explizite Drohungen und die Beleidigung von Kirchenvertretern.
In Kuba und Venezuela gehen die Menschenrechtsverletzungen und Repressionen gegen Dissidenten und Mitglieder des Klerus weiter. Diese sind Aggressionen, Verhaftungen, Drohungen und Verleumdungen ausgesetzt, weil sie oppositionelle Gruppen unterstützen oder andere Meinungen als die der Regierung vertreten.
Mehrere Länder der Region befinden sich seit Jahren in einer Krise, für die keine Lösung in Sicht ist. Besonders tragisch ist die Lage in Haiti, wo es sich nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks um die „schlimmste Menschenrechts- und humanitäre Situation seit Jahrzehnten“ handelt.[2]
Während Kuba und Venezuela weiterhin unter Nahrungsmittel- und Medikamentenmangel leiden, sind Argentinien, Bolivien, Chile, Ecuador, Guatemala und Peru von anderen soziopolitischen und wirtschaftlichen Krisen betroffen. Fast ein Drittel der Länder in der Region – die 30 Prozent der Bevölkerung des Kontinents repräsentieren – sind von Protesten und zivilen Unruhen betroffen, die auf die steigenden Lebenshaltungskosten, zunehmende Inflation, Korruption, die Mangel an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, politische Instabilität und Debatten über eine Verfassungsreform zurückzuführen sind.
Revierkämpfe, Korruption und Erpressung durch kriminelle Banden, Guerilla-Gruppen, Drogenkartelle und organisiertes Verbrechen: Gewalt ist in der gesamten Region verbreitet, wobei Kolumbien, Haiti, Mexiko und Venezuela zu den extremsten Beispielen gehören. Sowohl gezielte als auch willkürliche Gewalt erzeugen ein Gefühl der Unsicherheit, das die Voraussetzungen dafür untergräbt, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Recht auf Religionsfreiheit tatsächlich wahrnehmen können.
Migration ist ein großes Problem, das die sozioökonomischen Aussichten der ohnehin instabilen Region weiter schwächt, da es meist die gebildete Jugend ist, die nach besseren Perspektiven im Ausland sucht. Am stärksten ist der Druck in den Ländern, die an die krisengeschüttelten mittelamerikanischen Staaten angrenzen, aber auch in Mexiko, das seine Grenze mit den Vereinigten Staaten von Amerika teilt.
In vielen lateinamerikanischen Ländern, in denen der Staat nicht in der Lage ist, angemessene soziale Dienstleistungen bereitzustellen[3], spielen die Kirchen weiterhin eine Schlüsselrolle. Dies gilt trotz der Risiken für Kirchenmitarbeitende, die in verarmten und gefährlichen Gebieten humanitäre Hilfe für die Schwächsten leisten, insbesondere in Kolumbien, Kuba, Haiti, Honduras, Nicaragua, Panama, der Dominikanischen Republik und Venezuela.
Umstrittene neue Gesetze
Themen, die in einem Land Lateinamerikas virulent sind, ergreifen meist auch die anderen Staaten der Region. Dieses Phänomen hat sich nicht nur bei der Ausbreitung gewalttätiger Angriffe auf kirchliche Personen und Gebäude gezeigt, sondern auch bei der Einführung umstrittener neuer Gesetze (und daraus resultierenden Strafen bei Verweigerung aus Gewissensgründen) sowie bei Themen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe, Abtreibung, Euthanasie und Geschlechteridentität. Die Pläne, die in Costa Rica, Mexiko, Paraguay und Peru geprüft werden, sehen beispielsweise eine Überarbeitung der Programme zur Sexualerziehung vor, die neue Ansichten zur Geschlechtsidentität einbeziehen sollen. Diese Art von Überarbeitungen stellen das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder in Frage, welches wiederum ein direkter Ausdruck der Religionsfreiheit im Bildungsbereich ist.
Die gesetzlichen Beschränkungen, die im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängt worden waren, wurden 2022 gelockert und schließlich aufgehoben. Dies war ein bedeutendes Ereignis für die Gläubigen, die ab April desselben Jahres wieder in Rekordzahlen an den Feiern der Karwoche teilnahmen.
[1]„Ministerio de Justicia y Derechos Humanos – Decreto que concedió indulto particular a condenado por delito de incendio en inmueble habitado en grado frustrado, daños a bien de uso público y hurto simple en lugar de culto“, Boletín Jurídico del Observatorio de libertad religiosa de América Latina y el Caribe, Nº 4 (Year 18), Januar 2023, http://ojs.uc.cl/index.php/bjur/article/view/56679 (abgerufen am 31. Januar 2023).
[2]„UNHCR calls on States to refrain from forced returns of Haitians United Nations High Commissioner for Refugees“, UNHC), 3. November 2022, https://www.unhcr.org/news/press/2022/11/6363acd64/unhcr-calls-states-refrain-forced-returns-haitians.html (abgerufen am 2. April 2023).
[3] „Asesinan a párroco en Tecate, Baja California“, Wendy Fry, San Diego Union-Tribune, 22. Mai 2022, https://www.sandiegouniontribune.com/en-espanol/noticias/bc/articulo/2022-05-22/asesinan-a-parroco-en-tijuana (abgerufen am 2. April 2023).
[1]„Ministerio de Justicia y Derechos Humanos – Decreto que concedió indulto particular a condenado por delito de incendio en inmueble habitado en grado frustrado, daños a bien de uso público y hurto simple en lugar de culto“, Boletín Jurídico del Observatorio de libertad religiosa de América Latina y el Caribe, Nº 4 (Year 18), Januar 2023, http://ojs.uc.cl/index.php/bjur/article/view/56679 (abgerufen am 31. Januar 2023).
[2]„UNHCR calls on States to refrain from forced returns of Haitians United Nations High Commissioner for Refugees“, UNHC), 3. November 2022, https://www.unhcr.org/news/press/2022/11/6363acd64/unhcr-calls-states-refrain-forced-returns-haitians.html (abgerufen am 2. April 2023).
[3] „Asesinan a párroco en Tecate, Baja California“, Wendy Fry, San Diego Union-Tribune, 22. Mai 2022, https://www.sandiegouniontribune.com/en-espanol/noticias/bc/articulo/2022-05-22/asesinan-a-parroco-en-tijuana (abgerufen am 2. April 2023).