REGIONALE ANALYSE
OSZE-Länder*
von Roger Kiska
Die Mitgliedsstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) werden häufig danach unterteilt, ob sie sich „östlich von Wien“ oder „westlich von Wien“ befinden. Die OSZE wird auch als Organisation beschrieben, die sich „von Vancouver bis Wladiwostok“‘ erstreckt, eine Formulierung, die nicht nur die geografische Ausdehnung der Mitgliedsstaaten beschreibt, sondern auch das breite Spektrum an Ethnien, Religionen und politischen Strukturen einschließt. Der OSZE gehören 57 Staaten an, darunter die USA, Kanada, Europa sowie alle Länder des ehemaligen sowjetischen Osteuropas, des Kaukasus und Zentralasiens.
Jeder der Mitgliedsstaaten hat den Schutz der Religionsfreiheit zwar in irgendeiner Weise in seiner Verfassung verankert, die tatsächliche Umsetzung dieses Rechtes wie auch seine Respektierung auf gesellschaftlicher Ebene variieren allerdings stark. Die OSZE unterhält eine der weltweit besten Datenbanken zur Dokumentation von Hassverbrechen.
Der Krieg in der Ukraine
Am 24. Februar 2022 marschierte die Russische Föderation in die Ukraine ein. Auch zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts dauerte der Krieg nach wie vor an. Am 16. März 2022 hatte das Ministerkomitee des Europarates dafür gestimmt, die Russische Föderation aus dem Europarat auszuschließen.[1] Seit dem 16. September 2022 ist die Russische Föderation zudem keine Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention mehr. Dies bedeutet, dass sie nicht mehr der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterliegt.[2]Laut Europarat steht die vollständige Umsetzung von 2129 Urteilen und Beschlüssen durch Russland noch aus oder sind beim Ministerkomitee des Europarates anhängig. [3] Dennoch ist Russland bislang Mitglied der OSZE geblieben.
Antimuslimische Hassverbrechen
In vielen Teilen der Region häuften sich während des Berichtszeitraums Vorfälle, die als Ausdruck einer antimuslimischen Stimmung gelten können. Zu den Vorfällen von Hasskriminalität gehörten gewalttätige Angriffe auf Personen, Online-Drohungen in sozialen Medien und Angriffe auf Gotteshäuser. Vor allem muslimische Frauen wurden aufgrund ihrer Kleidung Opfer von Belästigungen, Beleidigungen und Gewalt.[4] Ein Beispiel dafür ist der Angriff auf eine schwangere Muslima an einem Bahnhof in der Nähe von Florenz (Italien) durch einen Mann, der ihr die Burka vom Leib riss und sie zusammen mit ihrem 11-jährigen Sohn aus dem Zug stieß.[5]
Antichristliche Hassverbrechen
Die meisten antichristlichen Hassverbrechen bestanden in Angriffen auf religiöse Würdenträger und Gläubige oder in Formen von Vandalismus und Schändung von Gotteshäusern. Hasskriminalität wurde in mehreren traditionell christlichen europäischen Ländern beobachtet, darunter in Frankreich, Spanien und Österreich (siehe die entsprechenden Länderberichte). Frankreich wurde im August 2021 durch die Ermordung des 61-jährigen katholischen Priesters Olivier Maire in Saint-Laurent-sur-Sèvre erschüttert.[6] Religiöse Einrichtungen in Frankreich wurden so häufig Ziel von Verwüstungen, dass das Innenministerium im Februar 2022 nach einer Reihe von Angriffen, u. a. auf die Kathedrale Saint-Denis bei Paris (eingeschlagene Fenster und Türen), in Bondy und Romainville (Diebstahl und Schändung des Tabernakels), in Vitry-sur-Seine (Schändung und Diebstahl), in Poitiers (Zerstörung von Heiligenstatuen) und in Paray-le-Monial (Diebstahl von Reliquien), eine Aufstockung der Mittel für den Schutz katholischer Kirchen zusagte.[7] In Spanien und Österreich kam es zu gewalttätigen Angriffen gegen Kirchenvertreter und Gläubige[8], zu beleidigenden Graffiti an katholischen, orthodoxen und evangelischen Gotteshäusern, zur Schändung von Tabernakeln und zu Vandalismus wie der Enthauptung von Statuen[9] sowie einem Brandanschlag auf ein Gotteshaus.[10]
Antisemitismus
Der weit verbreitete Antisemitismus innerhalb der OSZE-Region gibt weiterhin Anlass zu Sorge (siehe die entsprechenden Länderberichte). Die Zahl der in den OSZE-Staaten gemeldeten antisemitischen Hassdelikten ist von 582 im Jahr 2019 auf 1367 im Jahr 2021 gestiegen. Deutschland hatte mit 582 gemeldeten Hassverbrechen im Jahr 2019 und 1357 im Jahr 2021 einen starken Anstieg des Antisemitismus zu verzeichnen. Dies veranlasste die Regierung dazu, eine neue nationale Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus zu entwickeln. Deutschland ist jedoch nicht allein: In Österreich gab es ebenfalls einen starken Anstieg antisemitischer Angriffe, in Frankreich nahmen Angriffe auf Juden stark zu und in Skandinavien beging die „nordische Widerstandsbewegung“ schwere antisemitische Straftaten.
Radikalisierung des Islam in Zentralasien
Mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan verschärfte sich die Ausbreitung eines extremistischen Islam weiter und sorgt in der Region für große Beunruhigung. Aus Angst vor Radikalisierung haben Regierungen ihre Sicherheitsvorschriften verschärft. In Usbekistan führten die Behörden strengere Kontrollen des religiösen Lebens ein. Dazu gehörte auch die Auflage für muslimische und nichtmuslimische Gemeinden, Überwachungskameras in ihren Innen- und Außenbereichen zu installieren; ebenso die Ernennung islamischer Geistlicher durch die Regierung, um die Inhalte der Predigten zu kontrollieren; ferner wurde die Polizei eingesetzt, um mutmaßlichen Extremisten die Bärte abzurasieren.
In Tadschikistan verschärfte die Regierung die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die im Verdacht stehen, Mitglied verbotener islamistischer Gruppen zu sein und fügte einen neuen Abschnitt in das Strafgesetzbuch ein, der nicht genehmigten Religionsunterricht unter Strafe stellt. Ungeachtet der Verpflichtung des Staates, Extremismus zu bekämpfen, äußerten internationale Beobachter ihre Besorgnis darüber, dass vage Formulierungen in den jüngsten Gesetzen zur Terrorismusbekämpfung Auswirkungen auf die Religionsfreiheit haben können (vgl. die jeweiligen Länderberichte).
Ethnisch-religiöse Beziehungen
Der Balkan wird nach wie vor von anhaltenden Spannungen zwischen Volksgruppen beherrscht, deren ethnische Zugehörigkeit auch an die Religion geknüpft ist. In Bosnien und Herzegowina zum Beispiel definieren sich die meisten Bürger über ihre Zugehörigkeit zu einer der drei großen ethnischen Gruppen des Landes: katholische Kroaten, orthodoxe Serben und muslimische Bosniaken. Laut Europäischer Kommission wurden dort im Jahr 2021 134 Vorfälle von ethnisch motivierter Hasskriminalität registriert und acht Verurteilungen ausgesprochen. Im Jahr 2021 wurden außerdem 70 Anzeigen wegen Hassrede erstattet und elf Urteile gefällt, in denen acht Verurteilungen ausgesprochen wurden.[11] Im selben Jahr gingen beim Rat für Presse und Online-Medien 1073 Beschwerden wegen Hassrede im Internet ein. [12]
Für Zypern muss konstatiert werden, dass ethnisch-religiöse Spannungen durch den Religionsunterricht aufrechterhalten werden: Während in griechisch-zyprischen Schulen der Schwerpunkt im Religionsunterricht auf der griechisch-orthodoxen Tradition und der griechischen Identität liegt, stehen in türkisch-zyprischen Schulen die sunnitische Tradition und die türkische Identität im Fokus.[13]
Im Gegensatz dazu ist in Albanien, wo die religiöse Identität ebenfalls weitgehend entlang ethnischer Linien definiert wird, die religiöse Toleranz zwischen der islamischen Gemeinschaft und der orthodoxen sowie katholischen Kirche eine der tragenden Säulen der albanischen Gesellschaft.[14]
Hassrede und erzwungene Meinungsäußerung
Eines der wachsenden Spannungsfelder, das vor allem in den OSZE-Mitgliedsstaaten „westlich von Wien“ vorherrscht, ist das komplizierte Zusammenspiel zwischen der Bekämpfung von Äußerungen, die als Hassrede bezeichnet werden und der Zensur oder Sanktionierung dessen, was gemeinhin als freie Meinungsäußerung betrachtet wird. Hier stellt die vage Definition des Begriffes „Hassrede“ eine große Herausforderung dar.
Finnland ist ein Beispiel dafür, wie schwierig dieses Zusammenspiel sein kann. Die finnischen Behörden meldeten der OSZE für die Jahre 2020 und 2021 2567 Vorfälle von Hassreden[15] – unter den OSZE-Staaten ist dies eine beachtenswerte statistische Angabe für ein Land mit etwas mehr als 5,5 Millionen Einwohnern. Einige der von den Behörden als Hassrede eingestuften Fälle werfen jedoch die Frage auf, ob die Freiheit zur Äußerung religiöser Ansichten zu sensiblen moralischen und kulturellen Themen gefährdet ist. Die strafrechtliche Verfolgung der finnischen Parlamentsabgeordneten Päivi Räsänen wegen öffentlicher Bibelzitate ist ein Beispiel dafür.[16]
Eine größere Herausforderung für die Religions- und Gewissensfreiheit ist es, wenn die Behörden die Meinungsäußerung reglementieren. In Kanada erließ der Oberste Gerichtshof von British Columbia Ende Dezember 2020 eine Verhaltensregel für Gerichte, die sogenannte Practice Direction 59[17]. Diese „rät Parteien und ihren Anwälten, bei der Vorstellung vor Gericht ihre ‚korrekte Anrede‘ anzugeben.“ In der Praxis kann dies zu einer aufgezwungenen Anerkennung einer bestimmten Auffassung von Geschlechteridentität führen.[18]
Im Vereinigten Königreich führte die Ablehnung der neuen kulturellen Normen hinsichtlich der bevorzugten Anrede zu einem potenziellen Berufsverbot: Dr. David Mackereth wurde vom Department for Works and Pensions (Ministerium für Arbeit und Renten) als Gutachter entlassen, weil er darauf hingewiesen hatte, dass er aus christlicher Überzeugung keine transgender-sensiblen Pronomen verwenden könne. Seine Berufungsklage beim Arbeitsgericht wurde abgelehnt.[19] In einem anderen Fall droht einem christlichen Lehrer in England ein lebenslanges Unterrichtsverbot, weil er ein Schulkind während einer Prüfung mit dem falschen Pronomen angeredet hatte.[20]
Abtreibung
Das Thema Abtreibung war im Berichtszeitraum besonders umstritten. Nach dem Bekanntwerden des Urteils in der Rechtssache „Dobbs gegen Jackson“, mit dem das Urteil „Roe gegen Wade“ gekippt wurde, waren in den Vereinigten Staaten hunderte Kirchen zum Ziel von Angriffen geworden. In Schweden verloren zwei Hebammen ihre Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, nachdem ihnen eine Anstellung wegen ihrer Ablehnung der Abtreibung aus Gewissensgründen verweigert worden war. Im Vereinigten Königreich wurden zunehmend Pufferzonen um Abtreibungskliniken herum eingerichtet, in denen ein Verbot für friedliche Proteste, Beratung am Straßenrand oder stille Gebete galt.
* Regionale Zuweisungen werden nicht nur durch geografische Konventionen definiert, sondern auch durch ihren gemeinsamen Ansatz zur Religionsfreiheit und anderen Grundrechten
[1] „The Russian Federation is Excluded from the Council of Europe“, Council of Europe, Committee of Ministers, 16. März 2022, https://www.coe.int/en/web/portal/-/the-russian-federation-is-excluded-from-the-council-of-europe (abgerufen am 10. März 2023).
[2] „Russia Ceases to be a Party to the European Convention on Human Rights“, Council of Europe, 16. September 2022, https://www.coe.int/en/web/portal/-/russia-ceases-to-be-party-to-the-european-convention-on-human-rights#:~:text=Six%20months%20after%20its%20exclusion,Rights%20on%2016%20September%202022 (abgerufen am 10 März 2023).
[3] Ibid.
[4] „Comprendere i crimini d’odio contro i musulmani“, OSCE, https://www.osce.org/files/f/documents/b/9/495232.pdf (abgerufen am 12. November 2022).
[5] „Strappa il burqa e spinge donna incinta giù dal treno. Denunciato un pendolare, Gilda Giusti, Calenzano, Firenze Post, 23 Juli 2022, https://www.firenzepost.it/2022/07/23/calenzano-strappa-il-burqa-e-spinge-donna-incinta-giu-dal-treno-denunciato-un-pendolare/ (abgerufen am 11. November 2022).
[6] „Pope Francis saddened by murder of French priest Fr. Olivier Maire“, Hannah Brockhaus, Catholic News Agency, 11. August 2021, https://www.catholicnewsagency.com/news/248650/pope-francis-saddened-by-murder-of-french-priest-fr-olivier-maire (abgerufen am 8. November 2022).
[7] „France announces more funding for church security after recent attacks“, Church Times, 4. Februar 2022, https://www.churchtimes.co.uk/articles/2022/4-february/news/world/france-announces-more-funding-for-church-security-after-recent-attacks (abgerufen am 8. November 2022).
[8] „Sacristan brutally beaten up while praying, OIDAC Europe“, 29. September 2022, https://www.intoleranceagainstchristians.eu/index.php?id=12&case=6245 (abgerufen am 18. Januar 2023).
[9] „Decapitan la cabeza del niño Jesús del belén de San Lorenzo del Escorial“, TeleMadrid, 7. Dezember 2021, https://www.telemadrid.es/programas/telenoticias-1/Vandalizado-San-Lorenzo-Escorial-inaugurado-2-2403079690--20211207040055.html (abgerufen am 17. Dezember 2022).
[10] „Prenden fuego a la fachada de la iglesia de San Vicente Ferrer en Castellón“, TeleMadrid, 28. Oktober 2021, https://castellondiario.com/prenden-fuego-a-la-fachada-de-la-iglesia-de-san-vicente-ferrer-en-castellon/ (abgerufen am 17. Dezember 2022).
[11] „Bosnia and Herzegovina 2022 Report“, Directorate-General for Neighbourhood and Enlargement Negotiations, Commission Staff Working Document, European Commission, 12. Oktober 2022, https://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/bosnia-and-herzegovina-report-2022_en (abgerufen am 17. März 2023), S. 33-34.
[12]Ibid., S. 32.
[13] Siehe „Dilemmas of Religious Education, Freedom of Religion and Education in Cyprus“, Dilek Latif, Religions 13: 96 (2022), https:// doi.org/10.3390/rel13020096 (abgerufen am 7. Dezember 2022).
[14] „Key Findings of the 2022 Religious Freedom Report on Albania“, European Commission, 12. Oktober 2022, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/COUNTRY_22_6091 (abgerufen am 19. November 2022).
[15] „Hate Crime Reporting – Finland“, Office for Democratic Institutions and Human Rights, Organization for Security and Co-operation in Europe, https://hatecrime.osce.org/finland (abgerufen am 13. März 2023).
[16] „Finland’s Former Interior Minister Acquitted of Inciting Anti-LGBT Hate Speech“, Euronews, 30. März 2022, https://www.euronews.com/2022/03/30/finland-s-former-interior-minister-acquitted-of-inciting-anti-lgbt-hate-speech (abgerufen am 10. März 2023). Die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt und zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts ist das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Siehe „Bible Tweet Trial: Finland’s State Prosecutor Files Appeal“, Catholic News Agency, 3. Mai 2022, https://www.catholicnewsagency.com/news/251119/bible-tweet-trial-finland-s-state-prosecutor-files-appeal (abgerufen am 10. März 2023).
[17] „Practice Direction 59“, British Columbia Supreme Court, 16 December 2020; https://www.bccourts.ca/supreme_court/practice_and_procedure/practice_directions/civil/PD-59_Forms_of_Address_for_Parties_and_Counsel_in_Proceedings.pdf
[18] „B.C. courts asking for 'correct pronouns' is state-mandated identity politics“, Bruce Pardy comment, 9. Februar 2021; https://nationalpost.com/opinion/bruce-pardy-b-c-courts-asking-for-correct-pronouns-is-state-mandated-identity-politics (abgerufen am 16. März 2023).
[19] „Mackereth v Department for Work and Pensions & Anor“, Employment Appeal Tribunal 2022 (99), https://www.bailii.org/cgi-bin/format.cgi?doc=/uk/cases/UKEAT/2022/99.html&query=(title:(+mackereth+)) (abgerufen am 20. Dezember 2022).
[20] „Oxford Transgender Row Teacher Hearing Extended“, BBC News, 13. Januar 2023, https://www.bbc.com/news/uk-england-oxfordshire-64250809 (abgerufen am 16. März 2023).