Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Die Trennung von Religion und Staat ist in Artikel 18 der aserbaidschanischen Verfassung geregelt. Artikel 48 sichert den Bürgern des Landes Gewissensfreiheit zu. Demnach hat jeder das Recht, seine religiösen Überzeugungen zu bekunden und seinen Glauben frei auszuüben, soweit die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit dadurch nicht gestört werden. Tatsächlich ist das religiöse Leben aber durch das 2009 verabschiedete Gesetz über die Glaubensfreiheit streng reglementiert. Es verlangt eine Registrierung der Glaubensgemeinschaften beim „Staatlichen Komitee für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen“, das alle religiösen Schriften zensiert, die aus dem Ausland eingeführt und im Land verkauft und verbreitet werden. Der Religionsunterricht ist streng reglementiert und Ausländern ist es verboten, im Land zu missionieren.
Das 2009 erlassene Gesetz über die Glaubensfreiheit wurde in den letzten Jahren zweimal geändert. Doch die bürokratischen Hürden für die Religionsausübung wurden dadurch nicht abgebaut. Stattdessen wurden die Regeln für Gottesdienste, Gebete und religiöse Aktivitäten noch weiter verschärft.
Die erste Gesetzesänderung wurde ohne Einbeziehung der betroffenen Gemeinschaften erarbeitet und rasch verabschiedet. Sie trat am 16. Juni 2021 in Kraft. Die neuen Regeln sehen unter anderem vor, dass vor der Ernennung führender Geistlicher nichtislamischer Gemeinschaften die Genehmigung des „Staatlichen Komitees für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen“ eingeholt werden muss. Noch ist nicht geklärt, ob oder inwieweit dies für die Römisch-Katholische Kirche in Aserbaidschan gilt, da ihre Beziehungen zum Staat in einer 2011 unterzeichneten Vereinbarung geregelt sind, die dem Heiligen Stuhl das Recht einräumt, den Leiter der Apostolischen Präfektur und die Geistlichen zu ernennen.
Das reformierte Gesetz sieht vor, dass Glaubensgemeinschaften ihre Aktivitäten einstellen müssen, wenn sie keinen staatlich anerkannten Geistlichen haben. Nur Gemeinschaften, die ein registriertes „religiöses Zentrum“ vorweisen können, kommen in den Genuss der zahlreichen gesetzlich vorgesehenen Privilegien. So können diese unter anderem Ausländer als geistliche Führer benennen, religiöse Bildungseinrichtungen betreiben oder Pilgerreisen zu Heiligtümern und heiligen Stätten im Ausland organisieren.
Eltern und Erziehungsberechtigte haben das Recht, die Kindeserziehung an ihren religiösen Überzeugungen auszurichten. Seit der Gesetzesreform ist es ihnen jedoch untersagt, ein Kind zu einem Glauben zu zwingen und die körperliche und geistige Gesundheit eines Kindes durch religiöse Erziehung zu gefährden.
Besondere Sorge bereitet die neue Vorschrift, dass religiöse Großveranstaltungen außerhalb der staatlich genehmigten Gebetsstätten vorab durch das Staatliche Komitee genehmigt werden müssen. Internationale Beobachter befürchten, dass diese Regelung dazu missbraucht werden könnte, um religiöse Versammlungen in Privatwohnungen oder an anderen nicht öffentlichen Orten zu untersagen, da in dem neuen Gesetz nicht geregelt ist, ab wie vielen Teilnehmern eine Veranstaltung als Großveranstaltung gilt.
Weitere Gesetzesänderungen, die den Behörden noch mehr Befugnisse im Hinblick auf die Aktivitäten von Glaubensgemeinschaften einräumen, traten am 11. März 2022 in Kraft. Dazu gehört etwa die Regel, dass das Staatliche Komitee, und nicht die Verwaltung der Muslime im Kaukasus, dafür verantwortlich ist, alle fünf Jahre islamische Vorbeter zu ernennen, abzusetzen oder zu bestätigen. Darüber hinaus ist es nichtmuslimischen Gemeinschaften seither nicht mehr gestattet, sogenannte religiöse Zentren zu betreiben. Noch ist offen, wie sich diese Einschränkung auf die Aktivitäten der betroffenen Glaubensgemeinschaften auswirken wird.
Im April 2022 erließ das „Staatliche Komitee für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen“ neue Regeln für die Ernennung und Abberufung von Geistlichen, die jedoch äußerst vage sind und einen großen Ermessensspielraum zulassen. In einem Fall wurde beispielsweise in der Stadt Neftçala der schiitische Imam Mirseymur Aliyev entlassen, weil er das Fest des Fastenbrechens mit seiner Gemeinde nicht wie behördlich angeordnet am 2. Mai, sondern einen Tag später gefeiert hat.
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
Die Katholische Kirche, die von dem slowakischen Bischof Wladimir Fekete geleitet wird, unterhält gute Beziehungen zur Regierung von Aserbaidschan und zu den anderen christlichen Kirchen im Land. Ebenso wie die Verwaltung der Muslime im Kaukasus, die Russisch-Orthodoxe Kirche, die jüdischen Gemeinden und die Albanisch-Udinische Gemeinde erhält die Katholische Kirche jährlich staatliche Zuwendungen, wie sie allen „traditionellen“ Glaubensgemeinschaften gewährt werden.
Andere christliche und nichtchristliche Gemeinschaften haben in Aserbaidschan einen schwereren Stand. Viele Glaubensgemeinschaften, die eine Registrierung anstreben, aber die Anforderungen nicht erfüllen, weil sie zum Beispiel nicht die geforderten 50 erwachsenen Mitglieder vorweisen können, müssen Polizeischikane oder Rechtsstreitigkeiten fürchten. 2022 wurden jedoch keine behördlichen Maßnahmen gegen nicht registrierte Gemeinschaften getroffen. Ende 2021 registrierte das Staatliche Komitee 16 neue muslimische Glaubensgemeinschaften.
Unabhängige Muslime, die der Staat tendenziell als Bedrohung für die nationale Sicherheit betrachtet, werden einer genaueren Überprüfung unterzogen. So gerieten zum Beispiel Personen, die mit dem Muslim Unity Movement (Bewegung für die Einheit der Muslime – MUM) in Verbindung stehen, ins Visier der Behörden. Einige wurden im vergangenen Jahr zu Gefängnisstrafen verurteilt. Darunter auch Razi Humbatov, der im Juli 2021 in Untersuchungshaft kam und im Mai 2022 wegen angeblichen Drogenhandels zu sechs Jahren Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Am Tag des Gerichtsverfahrens gegen Humbatov protestierten mehrere MUM-Anhänger vor dem Gericht in Baku. Fünf Personen wurden festgenommen. Drei von ihnen – Agaali Yahyayev, Imran Mammadli und Elgiz Mammadov – blieben 30 Tage in Haft. Die beiden anderen – Suleyman Alakbarov und Mail Karimli – wurden aus dem Polizeigewahrsam entlassen, nachdem sie geschlagen und beleidigt worden waren. Taleh Bagirov, ein führender Vertreter der Bewegung, der als politischer Häftling im Gefängnis sitzt, trat am 3. Juni in den Hungerstreik, um gegen Polizeigewalt und Blasphemie zu protestieren.
Am 19. Oktober 2021 wurden sechs schiitische Geistliche festgenommen und verhört. Einer von ihnen, Imam Sardar Babayev, blieb in Haft. Gegen ihn soll am 19. März 2023 ein Gerichtsverfahren wegen Hochverrats und Spionage für den Iran eröffnet werden. Der im Ausland ausgebildete Babayev saß schon von 2017 bis 2020 im Gefängnis, weil er sich als Vorbeter betätigt hatte.
Am 22. September 2022 wurde Seymur Mammadov, ein Anhänger der Zeugen Jehovas, zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, weil er den Militärdienst verweigert hatte. Knapp ein Jahr zuvor, im Oktober 2021, hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg den aserbaidschanischen Staat schon zur Entschädigung von zwei anderen verurteilten Militärdienstverweigerern verpflichtet. Ein weiterer Zeuge Jehovas, Royal Karimov, wurde am 25. Juli 2022, zwei Tage nach seinem 18. Geburtstag, dem Militär übergeben und wird seither am Militärstützpunkt Gandscha festgehalten. Beide Männer hatten sich bereiterklärt, als Ersatz für den Militärdienst einen Zivildienst zu leisten.
Obwohl das Recht auf Verweigerung des Militärdienstes in der Verfassung verankert ist und Aserbaidschan dem Europarat schon im Januar 2001 die Einführung eines alternativen Zivildienstes zugesichert hatte, wurden bisher noch nicht die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen.
2021 und 2022 kamen der EGMR und der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen zu dem Ergebnis, dass Aserbaidschan das Recht auf Religionsfreiheit missachtet. Das Land wurde aufgefordert, die Opfer zu entschädigen und die entsprechenden Rechtsvorschriften so abzuändern, dass die Menschenrechte künftig eingehalten werden.
Bergkarbach
Bergkarabach, die Region im Grenzgebiet zwischen Aserbaidschan und Armenien, ist seit dem Ende der Sowjetzeit immer wieder Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen. Der Konflikt ist nach wie vor ungelöst. Trotz der seit 2020 geltenden Waffenruhe kommt es immer wieder zu Kämpfen, zuletzt im September 2022. Seither scheint die Waffenruhe zu halten, aber die Parteien werfen sich immer wieder gegenseitig vor, Vereinbarungen und Menschenrechte zu missachten.
Auch die Bedrohung des reichen kulturellen Erbes der Region bietet Anlass zur Sorge. Armenien wirft Aserbaidschan vor, gezielt armenische Kirchen, Heiligtümer und Kulturgüter zu zerstören, zu schänden und zu beschlagnahmen. Aserbaidschan beschuldigt Armenien seinerseits, sich das historische, kulturelle und religiöse Erbe Aserbaidschans widerrechtlich angeeignet zu haben, und behauptet, die jahrhundertealten armenischen Kirchen in der Region seien in Wirklichkeit ein Erbe der kaukasischen Albaner.
Kürzlich setzte Aserbaidschan eine neue Kommission von Historikern und Architektursachverständigen ein, deren Aufgabe es ist, Bergkarabach von einem angeblich „erfundenen“ armenischen Erbe zu befreien. Diese Maßnahme gefährdet unter anderem den Wiederaufbau der Erlöserkirche von Schuscha. Die Kathedrale wurde 2020 bei Kämpfen beschädigt und wird zurzeit in ihrer „ursprünglichen“ Form wieder aufgebaut, wie die aserbaidschanischen Behörden behaupten. Dabei wird das Erscheinungsbild des Gebäudes so angepasst, dass es dem neuen Narrativ vom historischen Ursprung entspricht. Die antiarmenische Kampagne Aserbaidschans richtet sich auch gegen die religiösen Rechte der in Aserbaidschan lebenden Armenier, die zum Beispiel seit Mai 2021 das Kloster Dadivank nicht mehr betreten dürfen.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Die Zukunft der Religionsfreiheit in Aserbaidschan ist ungewiss. Aserbaidschan ist seit jeher bestrebt, sich als multikulturelles Land darzustellen, das alle ethnischen Gruppen und Religionen achtet. Wie in anderen Staaten der Region werden registrierte und nicht registrierte Glaubensgemeinschaften von den aserbaidschanischen Behörden angeblich aus Sicherheitsgründen unterschiedlich behandelt. Das spiegelt sich auch in den jüngsten Änderungen des 2009 erlassenen Gesetzes über die Glaubensfreiheit wider. Diese Gesetzesänderungen schränken die Ausübung des Glaubens und diverse religiöse Aktivitäten weiter ein und verschärfen die ohnehin strenge staatliche Kontrolle des religiösen Lebens, obwohl die Trennung von Religion und Staat in der Verfassung verankert ist. Die Religionsfreiheit wird daher in diesem Land wohl auch weiterhin einen schweren Stand haben.