Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
In der Präambel der venezolanischen Verfassung wird der Schutz Gottes angerufen – mit dem Ziel, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, in der das Recht geachtet wird und die frei von jeglicher Diskriminierung ist.
In Artikel 59 der Verfassung garantiert der Staat die Kultus- und Religionsfreiheit. Im selben Artikel heißt es, dass jede Person „das Recht hat, sich zu ihrem Glauben und ihren Kulten zu bekennen und den eigenen Überzeugungen im privaten oder öffentlichen Raum durch Lehren und andere Praktiken Ausdruck zu verleihen, sofern sie nicht zur Moral, zu den guten Sitten und der öffentlichen Ordnung im Widerspruch stehen“.
Des Weiteren gewährleistet Artikel 59 die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften und sieht vor, dass Eltern ihre Kinder in Übereinstimmung mit den eigenen Überzeugungen erziehen dürfen.
Die Gewissens- und Meinungsfreiheit ist in Artikel 61 verankert; dort ist allerdings auch festgeschrieben, dass niemand sich auf Gewissensvorbehalte berufen kann, um die geltenden Gesetze zu umgehen.
Gemäß Artikel 89 Absatz 4 ist jegliche Form von Diskriminierung am Arbeitsplatz verboten.
Laut Artikel 119 erkennt der Staat die Rechte der indigenen Völker an, darunter ihr Recht auf Religionsfreiheit. Darüber hinaus verleiht Artikel 121 den indigenen Völkern das Recht, ihre eigenen Bräuche und Werte zu bewahren und weiterzuentwickeln, welches sich auch auf ihre Spiritualität und ihre heiligen Stätten erstreckt. Die Rechte der indigenen Völker sind auch in anderen Gesetzen des Landes verankert.
So werden zum Beispiel in Artikel 97 des Ley Orgánica de Pueblos y Comunidades Indígenas (Organgesetz über die indigenen Völker und Gemeinschaften, 2005) die Spiritualität und der Glaube indigener Gemeinschaften als grundlegende Bestandteile ihrer Weltanschauung anerkannt. Niemandem ist es gestattet, indigenen Völkern religiöse Überzeugungen aufzuzwingen oder ihnen ihre eigenen Praktiken und Glaubensvorstellungen abzusprechen (Art. 98). Die Verantwortung für die religiöse Erziehung indigener Kinder und Jugendlicher liegt bei deren Eltern, Verwandten sowie Mitgliedern ihrer Gemeinschaft (Art. 100). Artikel 107 sichert den indigenen Völkern Schutz vor politischem und religiösem Fanatismus zu.
Weitere Gesetze erkennen das Recht von Kindern und Heranwachsenden auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit an. Ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten haben das Recht und die Pflicht, sie in der Ausübung dieses Rechts anzuleiten. Minderjährige haben ein Recht auf ihr eigenes kulturelles Leben, auf Bekenntnis und Ausübung ihrer eigenen Religion oder Glaubensvorstellungen sowie auf die Verwendung ihrer eigenen Sprache; dies gilt insbesondere für diejenigen, die einer ethnischen, religiösen oder indigenen Minderheit angehören.
Was das Bildungswesen anbelangt, erklärt sich der Staat für säkular und verpflichtet sich, seine Unabhängigkeit gegenüber allen Religionen gleichermaßen zu wahren. Eltern wird das Recht zugestanden, bezüglich der religiösen Erziehung ihrer Kinder eine Wahl zu treffen.
Das Bildungsministerium hat mit dem venezolanischen Verband für katholische Bildung (Asociación Venezolana de Educación Católica, AVEC) eine Vereinbarung unterzeichnet, wonach der Staat die katholischen Schulen des Landes finanziell unterstützt.
Im Jahr 2021 wurde die Bezahlung von Lehrkräften, Verwaltungspersonal und Angestellten an den Schulen vom Ministerium geändert, die der AVEC angeschlossen sind. Seitdem werden die Gehälter über eine staatliche Stelle transferiert und nicht mehr über den AVEC-Verband. Die Katholische Bischofskonferenz von Venezuela (CEV) sprach sich gegen diese Praxis aus und bezeichnete sie als Verstoß gegen die Vereinbarung zwischen Staat und Kirche – mit der Befürchtung, die Autonomie der Schulen würde dadurch beeinträchtigt werden.
Mit der Steuerreform im Jahr 2014 wurde die Steuerfreiheit für Einrichtungen mit religiösen, künstlerischen, wissenschaftlichen und anderen Zielsetzungen abgeschafft. Seitdem sind Steuerbefreiungen auf karitative und soziale Einrichtungen beschränkt.
Im venezolanischen Strafgesetzbuch werden zahlreiche Straftaten aufgeführt, die sich gegen die Religionsfreiheit richten. So sieht Artikel 168 Strafen vor, wenn Gottesdienste oder religiöse Zeremonien verhindert bzw. beeinträchtigt werden. Auch die vorsätzliche Beschädigung von Gegenständen, die im Gottesdienst verwendet werden, ist strafbar.
Das verfassungsmäßige Gesetz gegen Hass, für friedliche Koexistenz und Toleranz sieht Haftstrafen von bis zu 20 Jahren für all jene vor, die über Radio, Fernsehen oder soziale Medien Hassbotschaften verbreiten, die sich auf die Gruppenzugehörigkeit einer Person beziehen oder die ihren sozialen Status, ihre ethnische Zugehörigkeit, ihre Religion, ihre politischen Ansichten oder ihre sexuelle Orientierung betreffen.
Dieses Gesetz ist sehr weit gefasst, unpräzise und seine Anwendung mit großem Ermessensspielraum versehen. Nach Ansicht der Nichtregierungsorganisation Espacio Público („Öffentlicher Raum“) ist es ein Instrument zur Einschränkung der freien Meinungsäußerung – insbesondere dann, wenn es um abweichende Meinungen geht – und wurde bereits angewendet, um Journalisten und Priester zum Schweigen zu bringen.
In Venezuela besitzen Kirchen Rechtspersönlichkeit. Gemäß einem Konkordat zwischen der Republik Venezuela und dem Heiligen Stuhl aus dem Jahr 1964 ist die Katholische Kirche als internationale und öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt.
Im Jahr 1994 wurde ein weiteres Abkommen zwischen dem Staat und dem Heiligen Stuhl unterzeichnet, das die Militärseelsorge regelt.
Schließlich wurde im April 2022 das Gesetz zum Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Verfahrensbeteiligten reformiert, um die soziokulturellen Normen und Weltanschauungen der indigenen Bevölkerung zu schützen.
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
In den vergangenen zwei Jahren wurden mehrere Berichte veröffentlicht, die die Menschenrechtslage in Venezuela als äußerst kritisch beurteilen, so der Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte aus September 2021, der Länderbericht des US-Außenministeriums zur Religionsfreiheit in Venezuela, der ebenfalls 2021 veröffentlicht wurde, und der Bericht von Human Rights Watch zur globalen Menschenrechtslage 2022.
Venezuela befindet sich in einer noch nie dagewesenen Krise. „Beinahe 80 Prozent der rund 33 Millionen Venezolaner leiden unter extremer Armut. Hinzu kommen eine galoppierende Inflation, die Ausbreitung der organisierten Kriminalität und die Folgen der Pandemie.“ Mehr als fünf Millionen Venezolaner haben das Land bereits verlassen.
Ein besonders erschütterndes Beispiel für das Leiden der Menschen ereignete sich Ende Dezember 2020, als in der Nähe des Fischereihafens von Güiria mehr als 27 Menschen auf der Flucht ertranken. Die Flüchtlinge waren am 6. Dezember auf zwei von der Mafia betriebenen Booten im Nordosten Venezuelas aufgebrochen „in der Hoffnung, die etwa hundert Kilometer bis nach Puerto España, der Hauptstadt von Trinidad und Tobago, über das Meer zurückzulegen“.
Die Regierung von Präsident Nicolás Maduro wies die Kritik der Katholischen Kirche an der sozio-politischen Krise des Landes und an der Verteidigung der Menschenrechte im Berichtszeitraum scharf zurück.
Im Mai 2021 bezeichnete der Präsident den Jesuitenpater Arturo Sosa als „Söldner der Feder“, nachdem dieser Maduro als Oberhaupt einer Diktatur bezeichnet hatte.
Baltazar Kardinal Porras brachte im Juni 2021 die Bereitschaft der Kirche zum Ausdruck, bei möglichen Verhandlungen eine „Vermittlerrolle“ zwischen der Regierung und der Opposition einzunehmen, um zu einer Lösung der politischen Krise Venezuelas beizutragen.
Im selben Monat wurde die Kommission für Familie und Religionsfreiheit von der Nationalversammlung eingesetzt.
Im Juli 2021 forderte Präsident Maduro von Pietro Kardinal Parolin, dem Staatssekretär des Heiligen Stuhls, Erklärungen zu einem „Brief voller Hass und Angriffe“ gegen Venezuela, den der Prälat an den venezolanischen Unternehmerverband Fedecámaras geschickt und in dem er „die Venezolaner, insbesondere diejenigen, die in irgendeiner Form politische Verantwortung tragen“, zum Dialog aufgefordert hatte. Auch Vizepräsidentin Delcy Rodríguez wetterte: „Priester, die sich politisch engagieren wollen, sollten ihre Soutane ablegen und sich in die Politik begeben.“
Die Katholische Bischofskonferenz Venezuelas übte im August 2021 scharfe Kritik an der Bolivarischen Nationalgarde (Guardia Nacional Bolivariana, GNB), die humanitäre Hilfe für das von sintflutartigen Regenfällen heimgesuchte Mérida verhindert habe. In der Erklärung prangerten die Prälaten die Haltung von Regierungsbehörden und der GNB an, die „weit davon entfernt sind, selbstlos zu kooperieren. Zudem blockierten sie nicht nur einen Großteil der Hilfsgüter aus den verschiedensten Regionen des Landes, sondern begegnen auch Mitgliedern der Kirche und ihren Institutionen mit Verächtlichkeit.“
Weihbischof Luis Enrique Rojas von Mérida konfrontierte Mitglieder der GNB öffentlich mit den Vorwürfen und prangerte die Vorfälle in den sozialen Medien an. Präsident Maduro nannte daraufhin die Bischöfe, die die Hilfe geschickt hatten, „Teufel in Soutanen“ und verunglimpfte sie als „Ungeziefer“.
Vom Vizepräsidenten der regierenden Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas, Diosdado Cabello, wurde der Katholischen Kirche vorgeworfen, wie eine politische Partei zu handeln. Außerdem bezeichnete er Weihbischof Rojas als „lächerlich.“
Die Beobachtungsstelle für Religionsfreiheit in Lateinamerika schloss sich den Bedenken des Evangelischen Rates in Venezuela über die Einmischung der Regierung an. Diese hat lokale Büros der als „pastorale Räte der Regierung“ bezeichneten Stellen einrichten lassen. Diese Räte haben sich selbst zur alleingültigen Stimme der evangelikalen Gemeinschaft erklärt – und missachten damit den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat. Damit bringen sie diejenigen Gemeinschaften und Kirchen zum Schweigen, die diese Räte nicht anerkennen. Diejenigen, die sie akzeptieren, werden als Rebellen oder Regimegegner betrachtet.
Mit Hilfe des Rates hat die Regierung damit begonnen, die evangelikalen Kirchen Venezuelas im Rahmen des so genannten Plans des Guten Hirten zu registrieren. Der Plan verspricht denjenigen Pastoren, die sich registrieren lassen, finanzielle Prämien. Die Beobachtungsstelle für Religionsfreiheit kritisierte dies als Versuch, die Kirchen zu kontrollieren, und wies darauf hin, dass „staatliche Unterstützung gleichberechtigt und ohne politische oder parteibezogene Bedingungen gewährt werden sollte“. Die Registrierung der Kirchen begann im März 2022 mit dem Aufbau einer Datenbank, zunächst in der Hauptstadt Caracas und dann auch an anderen Orten Venezuelas.
Das Programm „Patria“ (Heimat), eine von der Regierung im Jahr 2016 eingerichtete digitale Plattform, ermöglicht Mitgliedern über einen QR-Code Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Sozialprogrammen. Das System wurde indes vom „Verfassungsblock“, einer Organisation von Richtern, Anwälten und Juristen, als Instrument der sozioökonomischen und wahlpolitischen Kontrolle bezeichnet.
In ähnlicher Weise forderte der Bischof von San Cristóbal, die Impfkampagne nicht politisch zu missbrauchen. Er beklagte, dass nur Personen mit einem „Heimatausweis“ (Carnet de la Patria) geimpft würden, d. h. nur Anhänger des Chavismus, der linken Bewegung des verstorbenen Präsidenten Hugo Chavez. Gesundheitsfachkräfte sowie gefährdete Gruppen würden dabei nicht prioritär behandelt.
Im April 2021 riefen die katholischen Bischofskonferenzen von Venezuela und Kolumbien die Behörden beider Länder auf, eine Lösung für die durch den bewaffneten Konflikt verursachte Grenzkrise zu finden. Der Grenzkonflikt ist verantwortlich für die Vertreibung von Tausenden von Menschen.
Die Kirche Maria Auxiliadora in Maracay wurde im Mai 2021 ausgeraubt – in drei aufeinander folgenden Nächten. Dabei wurden religiöse Gegenstände wie Ziborien und Weihrauchfässer gestohlen, aber auch Tonanlagen und kleinere Haushaltsgeräte.
In einem wichtigen Urteil bestätigte der Oberste Gerichtshof im August 2021 die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur umfassenden Seniorenpflege, das auch Bestimmungen enthält, die überlieferte medizinische und religiöse Praktiken von indigenen Senioren berücksichtigen.
Vor den Regionalwahlen im November 2021 riefen die venezolanischen Bischöfe die Menschen dazu auf, ihre Stimme abzugeben und betonten, dass eine Stimmenthaltung keine Veränderung bringe.
Während der gesamten Pandemie riefen die Prälaten die Bürger auf, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen und forderten eine konsequente Impfpolitik, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte Präparate verwendet. Sie betonten auch, dass die Pandemie große wirtschaftliche und soziale Auswirkungen habe, vor allem im Bildungsbereich.
Am 12. Oktober 2021 feierte Venezuela den 529. Jahrestag des „indigenen Widerstands“, mit dem die Bedeutung der indigenen Völker unabhängig ihres Glaubens gewürdigt wird.
Ende 2021 halfen die Katholische Kirche und ihr wichtigstes Hilfswerk, die Caritas, den von den Überschwemmungen betroffenen Einwohnern von Pao, Lebensmittel, Medikamente und Spenden zu sammeln. Die Zeugen Jehovas ihrerseits schickten Lebensmittel und Hygieneartikel nach Venezuela, um das Land bei der Bewältigung seiner schweren Wirtschaftskrise zu unterstützen.
Im Januar 2022 wurde angekündigt, dass christliche Pastoren, die sich dem Patria-Programm anschließen, einen finanziellen Bonus erhalten.
Hassverbrechen (Angriffe auf Eigentum und Personen), die im Berichtszeitraum begangen wurden, waren offensichtlich nicht religiös motiviert. Dennoch hatten sie Auswirkungen auf die Anwendung der Religionsfreiheit. Beispielsweise wurde im Januar 2022 eine Klimaanlage gestohlen, die eingesetzt wurde, um den unversehrten Leichnam des ersten Seligen Venezuelas zu erhalten. Doch ohne die Klimaanlage wurden Luftfeuchtigkeit und die Hitze im Heiligtum zu einem Risiko.
Im August 2022 wurde der Stadtrat Ronald Soto in Zulia in der evangelischen Kirche ermordet, in der er als Pastor tätig war. Es gibt Hinweise, dass Soto Opfer einer Erpressung wurde und dass das Organisierte Verbrechen dafür verantwortlich ist.
Die traditionelle Parade der Heiligen Drei Könige und die Prozession des Heiligen Christus der Gesundheit durften im Januar bzw. März 2022 wieder stattfinden – beides war vom Kulturministerium zum immateriellen Kulturerbe erklärt worden.
Im Juli 2022 räumte die Bischofskonferenz ein, dass Mitglieder der Kirche in Venezuela sexuellen Missbrauch begangen hätten; dabei bekräftigte sie ihren Willen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, und verpflichtete sich, die Kirchen zu „sicheren Orten für alle“ zu machen.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Die politische, soziale und wirtschaftliche Krise in Venezuela dauert an und hat sich zu einer humanitären Krise ausgeweitet, die vor allem durch den Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten bestimmt wird. Die Regierung stellt ihre Hilfe nur denjenigen zur Verfügung, die sich in das staatliche Verzeichnis haben eintragen lassen bzw. beschränkt ihre Hilfe auf Programme, die nur den religiösen Gruppen zugute kommen, die ins offizielle Register eingetragen sind.
Die Katholische Kirche beklagt weiterhin den verschlechterten Zustand der Demokratie, die Zwangsumsiedlung von Menschen und die bittere Armut sowie die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen durch das Regime. Als wichtige Stimme, die sich für die Unterdrückten einsetzt, nimmt die Kirche die Last rigoroser Kritik und Angriffe der Regierung auf sich.
Zu den eindeutigen Verstößen gegen die Religionsfreiheit zählen die Untergrabung der evangelikalen Kirchen durch den so genannten Plan des Guten Hirten, Angriffe auf Gotteshäuser und die Schikanierung von Religionsführern. Diese Situation hat sich seit dem vergangenen Bericht nicht wesentlich verändert. Die Aussichten für die Zukunft bleiben schlecht.