Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Das Recht auf Religions- und Kultusfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat sind in der ukrainischen Verfassung von 1996 verankert. In Artikel 35 heißt es: „Jeder hat das Recht, seine persönliche Weltanschauung und Religion frei zu wählen. Es schließt auch das Recht ein, sich zu seinem Glauben zu bekennen oder keinen Glauben zu haben, seinen Glauben als Einzelperson oder in Gemeinschaft mit anderen ungehindert auszuüben und religiösen Aktivitäten nachzugehen. Die Ausübung dieses Rechts kann gesetzlich eingeschränkt werden, soweit es im Interesse der öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit, der guten Sitten und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer erforderlich ist. Der Staat ist nicht berechtigt, den Bürgern eine Religion vorzuschreiben.“ Die Verfassung gewährt außerdem das Recht, den Militärdienst aus religiösen Gründen zu verweigern.
Artikel 15 besagt: „Das gesellschaftliche Leben in der Ukraine beruht auf den Grundsätzen der politischen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Vielfalt. Der Staat schreibt keine ideologische Ausrichtung vor. Zensur ist verboten. Der Staat gewährleistet das Recht auf freies politisches Handeln, sofern dieses Handeln nicht gegen die Verfassung und die Gesetze der Ukraine verstößt.“
In Artikel 21 heißt es: „Alle Menschen sind gleichermaßen mit Grundfreiheiten, Menschenwürde und Grundrechten ausgestattet. Die Menschen- und Freiheitsrechte sind unveräußerlich und unantastbar.“
Artikel 34 sichert jedem Bürger das Recht auf Gedanken- und Redefreiheit und auf freie Meinungsäußerung zu.
Wer aus religiösen Gründen den Militärdienst verweigert (dieses Recht wird Anhängern von zehn Glaubensgemeinschaften zugestanden), muss einen zivilen Ersatzdienst ableisten, der anderthalb Mal so lange wie der Militärdienst dauert. In einer Kriegslage sind aber weder Geistliche noch Militärdienstverweigerer von einer Einziehung zum Militär befreit. In der gegenwärtigen Situation, in der das Kriegsrecht gilt, dürfen Männer im wehrfähigen Alter das Land nicht verlassen. Die meisten Militärdienstverweigerer konnten bisher Ersatzdienste leisten, aber es kam auch schon zu Festnahmen, und eine Person wurde in diesem Zusammenhang zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Das 1991 in Kraft getretene Gesetz über die Gewissensfreiheit und Religiöse Organisationen, das die in Verfassungsartikel 35 verankerten Rechte nochmals bestätigt, bestimmt den rechtlichen Rahmen für die Tätigkeit von Kirchen und religiösen Organisationen. Das Gesetz wurde bislang mehrfach geändert.
Das 2018 verabschiedete Gesetz Nr. 5309 (reg. 26.10.2016), zuvor Gesetzentwurf Nr. 4511 (reg. 22.04.2016), legt die Bedingungen für die Arbeit von Glaubensgemeinschaften fest, deren Hauptsitz in einem Aggressorland angesiedelt ist. Diese müssen ihren Namen so abändern, dass ihre Verbindungen zum Aggressorland eindeutig erkennbar sind. Darüber hinaus untersagt es den betreffenden Glaubensgemeinschaften, Geistliche für die ukrainische Militärseelsorge bereitzustellen. Religiöse Organisationen, deren Hauptsitz im Ausland angesiedelt ist, dürfen in der Ukraine also tätig sein, solange sie sich an ukrainisches Recht halten und ihre Zugehörigkeit aus ihrem Namen deutlich hervorgeht.
2019 verabschiedete das ukrainische Parlament das Gesetz Nr. 4128-d (reg. 16.01.2019), zuvor Gesetzentwurf Nr. 4128 (reg. 23.02.2016), das die Anforderungen für die Anerkennung des Rechtsstatus von Glaubensgemeinschaften festlegt. Während nicht religiöse Organisationen nur mindestens drei Mitglieder für eine Registrierung vorweisen müssen, benötigen Glaubensgemeinschaften mindestens zehn Mitglieder. Glaubensgemeinschaften müssen dem neuen Gesetz zufolge den örtlichen Behörden ihre Statuten vorlegen. Des Weiteren müssen sie das Eigentum bzw. das Nutzungsrecht an den in den Statuten genannten Liegenschaften nachweisen. Das Verfahren für Gemeinden, die die dem Moskauer Patriarchat unterstellte Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK-MP) verlassen und zur eigenständigen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) wechseln wollen, wurde vereinfacht.
Die UOK-MP kritisierte die Gesetzesänderungen, und es gab Proteste. Nach Meinung von Menschenrechtsaktivisten bietet das überarbeitete Gesetz Nr. 4128-d den Gemeinden der UOK-MP aber immer noch ausreichenden Schutz.
Darüber hinaus trat das Gesetz Nr. 5109 (reg. 19.02.2021) zur Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus in Kraft. Darin hat der Gesetzgeber definiert, was im Sinne des Gesetzes unter Antisemitismus zu verstehen ist und welche Strafen bei Verstößen gegen das Gesetz drohen. Das Gesetz untersagt Antisemitismus in all seinen Ausprägungen.
Seit November 2019 dürfen Gläubige sich bei der Aufnahme von Fotos für Ausweisdokumente wie Reisepässe mit einer religiösen Kopfbedeckung ablichten lassen.
Bezüglich der Schulbildung sieht Artikel 33, Absatz 3 der Verfassung die Trennung von Kirche und Staat sowie die Trennung von Kirche und Schulbildung vor. Staatliche Schulen sind säkular. Bis 2015 konnten Bildungseinrichtungen von staatlichen Stellen, Kooperativen, Körperschaften des öffentlichen Rechts, Institutionen, Unternehmen und Privatpersonen gegründet werden. Da Glaubensgemeinschaften in dieser Liste nicht aufgeführt waren, mussten sie sich als Körperschaft des öffentlichen Rechts eintragen lassen, um Bildungseinrichtungen betreiben zu können.
Im Juni 2015 traten dann Gesetzesänderungen in Kraft, die es registrierten Glaubensgemeinschaften ermöglichen, auf allen Ebenen eigene Bildungseinrichtungen zu gründen: Grundschulen, weiterführende Schulen, Fachschulen und Hochschulen. Die Schüler an den staatlichen Schulen der Ukraine werden seit 2019 nicht mehr im Fach christliche Ethik unterrichtet. Die Lehrpläne sehen aber vor, dass ethikbezogene Inhalte im christlichen, islamischen und jüdischen Religionsunterricht berücksichtigt werden.
Paragraf 17 des Gesetzes über die Gewissensfreiheit und Religiöse Organisationen regelt die Nutzung von Kirchengebäuden und anderen Liegenschaften, die nicht mehr das Eigentum von Glaubensgemeinschaften sind. In der Ukraine gibt es kein Gesetz, das die Rückgabe von enteigneten Liegenschaften regelt. Ehemaliges Kircheneigentum wurde bislang nur per Erlass zurückgegeben. So konnten registrierte religiöse Organisationen gemäß einem Erlass aus dem Jahr 1992 die Nutzung von Kultstätten beantragen, die unter dem Sowjetregime enteignet worden waren. Das Thema war sehr umstritten. Manche forderten ein Restitutionsverbot, und es wurde sogar der Entwurf eines Gesetzes zum Schutz des kulturellen Erbes (Nr. 2993 und 2993-1) ins Parlament eingebracht.
Der Theresienstädter Erklärung, die sich ausschließlich auf die Rückgabe von geraubten jüdischen Kulturgütern und Vermögenswerten bezieht, hat sich die Ukraine angeschlossen. Sie betrifft auch Judaica und private Ansprüche der Holocaustopfer in Bezug auf Immobilien wie Synagogen, Gebetsstätten, Schulen, Gemeindezentren, Krankenhäuser und Friedhöfe. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben jüdische Gemeinden annähernd 50 Liegenschaften (zumeist Synagogen) zurückerhalten. Der Zentralrat der Juden in der Ukraine hat die bisher umfassendste Liste von ehemals jüdischen Vermögenswerten mit mehr als 2500 Einzelposten vorgelegt, darunter rund 1200 ehemalige Synagogen. 2021 wurde die ehemalige Synagoge von Luzk an die jüdische Organisation Habad-Lubavichi zurückgegeben.
In der Ukraine gibt es etwa 160 Moscheen und muslimische Gebetsstätten, 90 Koranschulen und 7 muslimische Hochschulen. Muslimische Gemeinden fordern die Rückgabe eines Geländes in dem Ort Akmechetka, Oblast Mykolajiw, auf dem sich die Ruinen einer historischen Moschee befinden. In dieser Angelegenheit wurden aber kriegsbedingt bisher keine Fortschritte erzielt.
Das Wiederaufleben der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche wirft Fragen nach einer Restitution des Vermögens auf, das im Zuge der Zwangsauflösung der Kirche im Jahr 1946 verloren ging. Damals wurde das gesamte Vermögen der Kirche auf die Russisch-Orthodoxe Kirche übertragen, unter anderem mehr als 3000 Pfarrhäuser, 4440 Kirchen, 5 Priesterseminare und 127 Klöster, die mehr als 3 Millionen Gläubigen gedient hatten.
Im Berichtszeitraum forderte die Römisch-Katholische Kirche von der Regierung weiterhin die Rückgabe von mehreren Kirchenbauten, die überwiegend im Westen der Ukraine angesiedelt sind und zu Sowjetzeiten enteignet worden waren. Gemäß dem Präsidentenerlass Nr. 329 vom 18. August 2020 und dem Erlass Nr. 1203-R des Ministerkabinetts der Ukraine vom 16. September 2020 muss die St.-Nikolaus-Kathedrale im Zentrum von Kiew an die römisch-katholische Gemeinde zur freien und dauerhaften Nutzung zurückgegeben werden. Nach einem Erlass des Ministerpräsidenten kann die Übereignung des Kirchengebäudes, das sich nach einem Brand in einem schlechten baulichen Zustand befindet, nun vollzogen werden.
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
Rund 43 Millionen Einwohner der Ukraine haben einen christlichen Glauben. Die östlich-orthodoxen Kirchen sind im Land am stärksten vertreten; 67 % der Bevölkerung sind orthodoxe Christen. Neben den orthodoxen Kirchen, der Griechisch-Katholischen Kirche und der Römisch-Katholischen Kirche gibt es protestantische, jüdische und muslimische Gemeinden.
Gegenwärtig gibt es vier große Kirchen, von denen keine die Funktion einer Staatskirche hat: Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat, UOK-MP), die der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) unterstellt ist; die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU); die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK, die vor allem im Westen der Ukraine präsent ist); und die Römisch-Katholische Kirche. Besonders erwähnenswert ist die Entwicklung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU).
Die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) ist eine eigenständige östlich-orthodoxe Kirche, die am 15. Dezember 2018 durch einen Vereinigungsrat in Kiew gegründet und dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel unterstellt wurde. Die OKU ging aus der Vereinigung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats mit der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche hervor, der sich auch einige Gemeinden der UOK-MP anschlossen.
Am 6. Januar 2019 erklärte der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus I., gegenüber dem Metropolit von Kiew, Epiphanius I., die Orthodoxe Kirche der Ukraine für eigenständig. Damit machte er eine Entscheidung des Heiligen Synods des Ökumenischen Patriarchats aus dem Jahr 1686 rückgängig, die dem Patriarchen von Moskau das Recht einräumte, den Metropolit von Kiew zu ordinieren. In Erwartung dieses Schrittes hob das Moskauer Patriarchat bereits am 11. Oktober 2018 die eucharistische Gemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat auf.
Damit besiegelte es die seit mehr als 1000 Jahren schwerwiegendste Spaltung der Beziehungen zwischen den Patriarchaten von Moskau und Konstantinopel, wie manche meinen. Mit der Erklärung der Eigenständigkeit der Orthodoxen Kirche der Ukraine verlor die Russisch-Orthodoxe Kirche einen erheblichen Teil ihrer Gläubigen. Denn die Ukraine hat nach Russland und Äthiopien die drittgrößte christlich-orthodoxe Bevölkerung der Welt. Zuvor waren von den insgesamt 36 000 russisch-orthodoxen Gemeinden etwa 12 000 in der Ukraine angesiedelt.
Der Krieg und Verstöße gegen die Religionsfreiheit in den russisch besetzten Gebieten
Im Jahr 2014 wurden die ukrainische Halbinsel Krim und die Region Donbas (Teile der Oblaste Luhansk und Donezk, die innerhalb der international anerkannten Grenzen der Ukraine liegen) von der Russischen Föderation überfallen und unrechtmäßig besetzt. Das russische Besatzerregime der Krim betrachtete die dort ansässigen Strukturen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche Kiewer Patriarchats (UOK-KP) und der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) als „Handlanger ausländischer Interessen“. Sie wurden beschuldigt, nationalistische Ziele zu verfolgen, und mussten ein Tätigkeitsverbot fürchten. Die neuen Entwicklungen hatten auf alle Glaubensgemeinschaften der Halbinsel massive Auswirkungen. Vor der russischen Invasion waren etwa 50 religiöse Organisationen auf der Krim tätig. 2019 waren nur noch neun übrig. Viele Kirchengebäude von Gemeinden, die nicht dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind, wurden beschädigt oder zerstört.
Das russische Regime unterstellt den auf der Krim lebenden Tataren (turkstämmige Muslime), mit der islamistischen Bewegung Hizb ut-Tahrir in Verbindung zu stehen. Die Gruppe wird in Russland und in 13 weiteren Ländern als terroristisch eingestuft. In diesem Zusammenhang wurden allein im Jahr 2022 mehr als ein Dutzend Krimtataren zu Freiheitsstrafen verurteilt.
Am 20. April 2017 wurden die Zeugen Jehovas vom Obersten Gerichtshof Russlands als extremistisch eingestuft und verboten. In den russisch besetzten Gebieten der Ukraine werden sie daher verfolgt und verhaftet. Das russische Innenministerium berichtete, dass im Januar 2023 eine Untergrundgemeinde der Zeugen Jehovas im Ort Nowosofiwka, Oblast Cherson, geschlossen wurde. Nach Behördenangaben wurden in der Gemeinde mehr als 4000 verbotene Schriften gefunden.
In der Ukraine sind die Zeugen Jehovas zwar nicht verboten, aber sie werden dort mit Anfeindungen und Sachbeschädigungen konfrontiert. Die ukrainischen Behörden stufen diese Vorfälle als Vandalismus ein.
Am 24. Februar 2022 startete Russland eine umfassende Invasion der Ukraine und annektierte Gebiete der Oblaste Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja. Am 12. Oktober 2022 verabschiedete die UN-Vollversammlung die Resolution ES-11/4, in der sie Russlands Versuch der Annexion für unrechtmäßig erklärte.
Die besetzten Gebiete der Ukraine unterliegen dem Recht der Russischen Föderation, also auch dem Jarowaja-Gesetz und weiteren Gesetzen, die zur Extremismusbekämpfung erlassen wurden. Verstöße gegen die Menschenrechte, auch gegen das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, sind in den betroffenen Gebieten weit verbreitet. In Anbetracht des Kriegszustands, der Medienzensur und der schwierigen Berichterstattung können Verstöße gegen die Rechte der religiösen Minderheiten, wie unter anderem Verbote, Verhaftungen, Misshandlungen und Entführungen von Geistlichen, hier nur beispielhaft genannt werden. Betroffen sind protestantische, römisch-katholische, griechisch-katholische und orthodoxe Gemeinden, die nicht dem Moskauer Patriarchat unterstehen.
In einem Bericht vom März 2023 bestätigte das Institute for the Study of War den Beschuss von Kirchen und Kulturerbestätten in den von Russland besetzten und in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten und erklärte, die Verstöße gegen die Religionsfreiheit in den russisch besetzten Gebieten würden das „Ausmaß einer systematischen Verfolgung“ annehmen. Russische Soldaten oder Besatzungsbehörden haben Berichten zufolge in der Ukraine in „mindestens 76 Fällen Menschen aufgrund ihrer Religion verfolgt“, „mindestens 29 Geistliche oder Kirchenvertreter“ verhaftet oder getötet, „mindestens 13 Kultstätten geschlossen, geplündert, entweiht oder absichtlich zerstört“ und „mindestens 26 Gotteshäuser enteignet oder zwangsweise dem kremltreuen Russisch-Orthodoxen Patriarchat unterstellt“. Da genaue Zahlenangaben nicht verfügbar sind, sollen hier beispielhaft einige Vorfälle genannt werden: Im März 2022 töteten russische Soldaten in Butscha den Priester Myron Zvarychuk von der Orthodoxen Kirche der Ukraine. Im November 2022 wurden die beiden griechisch-katholischen Geistlichen Ivan Levytskyi und Bohdan Haleta in Berdjansk verhaftet und gefoltert. Es ist nicht bekannt, ob sie noch am Leben sind. Am 12. Dezember nahmen russische Soldaten Pastor Serhiy Karpenko von der protestantischen Vefil-(Bethel)-Gemeinde in Berdjansk fest. Im Januar 2023 kam er wieder frei.
Landesweite Schäden an Kircheneigentum
Die ukrainische Nichtregierungsorganisation Institute for Religious Freedom (IRF) zählte bis zum 3. Februar 2023 insgesamt 494 religiöse Stätten, die durch russische Soldaten entweder zerstört, beschädigt oder geplündert wurden. Die meisten zerstörten Moscheen, Kirchen und Synagogen wurden in den Regionen Donezk (120) und Luhansk (70) sowie in der Umgebung von Kiew (70) und Charkiw (50) verzeichnet. Mindestens 170 evangelische Kirchen und Gebetshäuser sowie 94 Versammlungsstätten der Zeugen Jehovas wurden ebenfalls zerstört. Das IRF berichtet von der Enteignung religiöser Stätten und ihrer Nutzung für militärische Zwecke. Die UNESCO bestätigte 112 Fälle, in denen religiöse Stätten durch Luftangriffe oder Beschuss beschädigt oder zerstört wurden: unter anderem die Christi-Geburt-Kathedrale in Sjewjerodonezk; die Katharinenkirche in Schtschastja; das ukrainisch-orthodoxe Kloster Swjatohirsk, wo vier Ordensleute getötet und sechs weitere verletzt wurden; die St.-Mitrofanov-Kirche in Lyssytschansk und die Kirchen Matrona von Moskau, St. Michael und St. Georg in Rubischne. Bei einem Angriff auf ein islamisches Kulturzentrum in Sjewjerodonezk wurde das Gebäude schwer beschädigt und mindestens 17 Menschen kamen ums Leben. Im März 2022 plünderten und beschädigten russische Soldaten das Priesterseminar der Ukrainischen Griechisch-Orthodoxen Kirche (UGKK) in Worsel, nachdem das Gebäude zweimal von Bomben getroffen worden war. Im November wurde das Kloster Swjatohirsk erneut angegriffen und zerstört.
Krieg und Glaube
Als der russische Präsident Wladimir Putin 2014 in einer Ansprache die Invasion der Halbinsel Krim rechtfertigte, berief er sich auf den Großfürsten von Kiew, den heiligen Wladimir, und erklärte, die Bekehrung des Großfürsten im Jahr 988 zur östlichen Orthodoxie habe die Grundlage für die Kultur, Zivilisation und menschlichen Werte geschaffen, die die Völker von Russland, Ukraine und Belarus vereinen. In dieser Rede kam die Idee von der russischen Welt (Russkiy Mir) zum Vorschein, eine Ideologie, aus der er neben religiösen auch geopolitische Standpunkte ableitet. Das Narrativ wurde vom russisch-orthodoxen Moskauer Patriarchat übernommen.
Im Februar 2022 rief Metropolit Onufry, das Oberhaupt der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, den russischen Präsidenten Putin auf, den Krieg zu beenden. Der Metropolit erklärte: „Das ukrainische und das russische Volk sind aus dem Taufbecken des Dnjepr hervorgegangen. Es ist eine große Schande, dass wir gegeneinander Krieg führen. Der Krieg zwischen diesen Völkern ist eine Wiederholung der Sünde Kains, der seinen jüngeren Bruder Abel erschlug.“
In einer Predigt, die er am 6. März 2022 in der Christ-Erlöser-Kathedrale hielt, betrachtete der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill den Krieg unter geistlichen Aspekten: „Wir haben uns in einen Kampf begeben, der keine physische, sondern eine metaphysische Bedeutung hat.” Und er stellte die Behauptung auf, dass Separatisten in der Donbas-Region „dafür leiden, dass sie die sogenannten Werte derjenigen, die die Weltmacht für sich beanspruchen, grundlegend ablehnen“.
Aufgrund der Haltung des Moskauer Patriarchen zum Krieg in der Ukraine erklärte der Rat der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats am 27. Mai 2022 seine vollständige Unabhängigkeit von Russland und entfernte aus den Statuten der Kirche alle Bezüge zu Moskau. Dies war jedoch eher ein symbolischer Akt, da die Bestimmungen, die Moskau als Quelle der Gemeinschaft mit den orthodoxen Kirchen bezeichnen, nicht verändert wurden.
Am 30. Mai reagierte Patriarch Kyrill auf die Entscheidung mit den Worten: „Kein vorübergehendes Hindernis kann die geistliche Einheit unserer Völker zerstören“, auch wenn „böse Geister, die sich am Himmel regen, versuchen, die russische und die ukrainische Orthodoxie zu entzweien“. Wie Metropolit Hilarion, der damalige Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, erklärte, habe sich aus kirchenrechtlicher Sicht nichts an den Beziehungen zwischen der russischen und der ukrainischen Orthodoxie geändert.
Am 25. September 2022 erklärte der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill, das Opfer, das Soldaten bei der Erfüllung ihrer militärischen Pflichten bringen, würde sie von allen Sünden reinwaschen.
Papst Franziskus hat sich in zahlreichen öffentlichen und privaten Appellen für ein Ende des Krieges in der Ukraine eingesetzt, mehrere Hilfsinitiativen gestartet und sich auf diplomatischen Wegen um Frieden bemüht. Auch andere Vertreter der Katholischen Kirche, vor allem aus den Nachbarländern der Ukraine, verurteilten den Krieg und riefen zu Frieden auf. Am 14. Februar 2022 rief der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanislaw Gądecki, die Vertreter der christlichen Kirchen in der Ukraine und in Russland dazu auf, gemeinsam mit Polen für Frieden zu beten. Am 2. März 2022 bat Erzbischof Gądecki den Moskauer Patriarchen Kyrill, auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin einzuwirken, damit er den Krieg in der Ukraine beendet.
Verstöße gegen die Religionsfreiheit in den ukrainisch kontrollierten Gebieten
Wegen Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie forderte die ukrainische Regierung die chassidischen Gläubigen im September 2021 auf, am jüdischen Neujahrstag Rosh ha-Schana nicht zum Grab des Rabbiners Nachman von Brazlaw zu pilgern, das in der Stadt Uman im Oblast Tscherkassy liegt. Dennoch begaben sich mehr als 25 000 von ihnen auf die Pilgerreise.
Die grundlegende Verschiebung der Loyalitäten unter den Kirchen in der Ukraine, die mit der formellen Anerkennung der Eigenständigkeit der Orthodoxen Kirche der Ukraine durch das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel in Gang gesetzt wurde, erhielt durch die russische Invasion vom Februar 2022 eine neue Dynamik. Formell ist die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats mit 11 400 Gemeinden nach wie vor die größte orthodoxe Kirche in der Ukraine. Beobachter gehen aber davon aus, dass seit der Invasion etwa 100 Geistliche die UOK-MP verlassen haben. Und im Zeitraum vom 15. Dezember 2018 bis zum 23. April 2023 haben sich 1333 Gemeinden und Klöster von der UOK-MP losgesagt und sind zur OKU übergetreten. Vertreter der OKU werfen der UOK immer wieder vor, die Legitimität der Lossagung in Frage zu stellen. Seit 2019 habe die UOK mehr als 100 Klagen gegen die staatliche Neuregistrierung von Gemeinden eingereicht. Die UOK stellt ihrerseits weiterhin die Legitimität der OKU in Frage und wirft ihr Diebstahl vor.
Eine Umfrage vom März 2022 ergab, dass die meisten Gläubigen es begrüßen würden, wenn sich die UOK von Moskau loslösen würde. Im August 2022 identifizierten sich nur 4 % der Ukrainer, die sich selbst als orthodoxe Christen bezeichnen, mit der UOK-MP. Und im Dezember 2022 unterstützten 54 % den Vorschlag, die UOK-MP in der Ukraine für rechtswidrig zu erklären.
Im Dezember 2022 kündigte der ukrainische Präsident Selenskyj ein hartes Durchgreifen gegen die mit Moskau verbundenen orthodoxen Kirchen in der Ukraine an. Die Erklärung erfolgte wenige Stunden nach der Durchsuchung eines orthodoxen Frauenklosters in Transkarpatien. Dabei hatten ukrainische Sicherheitskräfte Schriften entdeckt, in denen der Ukraine das Recht auf Unabhängigkeit abgesprochen und die Einheit von Russland, Ukraine und Belarus beschworen wurde. Die Sicherheitskräfte hatten zuvor schon mehrere Einrichtungen und Pfarrhäuser der UOK-MP durchsucht und dabei russische Propagandaschriften, russische Ausweisdokumente und Lebensmittel des russischen Militärs entdeckt. Nach Erkenntnissen der Regierung wurden die Einrichtungen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats als Verteilzentren für Propaganda und Informationsquellen für russische Spione und Kollaborateure genutzt. Der Präsident kündigte an, die Maßnahmen der nationalen Sicherheitsbehörden zur Aufdeckung und Bekämpfung der subversiven Aktivitäten im religiösen Umfeld der Ukraine zu verschärfen.
Die ukrainischen Behörden leiteten mehr als 40 Spionageabwehrmaßnahmen gegen die UOK-MP ein. Im Zuge dessen wurden gegen 61 Geistliche strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet und gegen 17 Vertreter der UOK-MP wurden Sanktionen verhängt. Etwa 250 Geistlichen der Russisch-Orthodoxen Kirche wurde ein Einreiseverbot erteilt, und 19 Geistlichen der UOK-MP wurde die ukrainische Staatsbürgerschaft aberkannt. Das ukrainische Verteidigungsministerium teilte mit, dass im März 2022 im Austausch gegen Kriegsgefangene zwei Geistliche an Russland ausgeliefert wurden.
Die meisten Glaubensgemeinschaften in der Ukraine beklagten weiterhin die undurchsichtigen und unzureichenden Verfahren für die Restitution von Vermögenswerten, die unter dem ehemaligen kommunistischen Regime enteignet wurden. Christliche, jüdische und muslimische Gruppen nannten mehrere Faktoren, die den Prozess hinauszögern: die russische Invasion, Streitigkeiten unter den Glaubensgemeinschaften in Bezug auf einzelne Liegenschaften, die gegenwärtige Nutzung von Liegenschaften durch staatliche Einrichtungen, die Ausweisung einzelner Liegenschaften als geschichtliche Denkmäler, Streitigkeiten über behördliche Zuständigkeiten und die Tatsache, dass sich einzelne Liegenschaften inzwischen in Privatbesitz befinden. Die muslimische Gemeinschaft beklagte Verzögerungen bei der Rückgabe einer historischen Moschee in Mykolajiw. Vertreter der jüdischen Gemeinde beschwerten sich über die widerrechtliche Bautätigkeit auf dem Gelände eines historischen jüdischen Friedhofs in Uman und die Fortführung des Krakauer Marktes auf dem Gelände eines historischen jüdischen Friedhofs in Lemberg.
Seit Generationen wandern kontinuierlich Muslime aus Russland in die Ukraine ein. Dabei handelt es sich unter anderem um Kriegsflüchtlinge aus dem Nordkaukasus und Mitglieder islamistischer Bewegungen wie Hizb ut-Tahrir, die in Russland verboten wurden. Im Laufe der Zeit wuchs das Misstrauen der ukrainischen Behörden gegenüber Muslimen russischer Herkunft. Deshalb werden Siedlungen und Gebetsstätten der Migranten verstärkt von Sicherheitskräften beobachtet.
Die muslimische Gemeinde in Kiew fordert die Stadt seit 2017 vergeblich auf, Flächen für eine muslimische Begräbnisstätte bereitzustellen. Nach ihrer Ansicht hat sie als Glaubensgemeinschaft einen gesetzlichen Anspruch auf einen eigenen Friedhof. Bisher müssen Muslime aus Kiew ihre Verstorbenen in anderen Städten beerdigen.
Die National Minorities Rights Monitoring Group (NMRMG) verzeichnete einen Rückgang der antisemitischen Gewalt. 2021 wurden drei Fälle gemeldet. 2022 gab es einen Vorfall. Die antisemitischen Sachbeschädigungen gingen im selben Zeitraum von 13 auf 5 Fälle zurück.
Nach mehreren Angriffen und einem Brandanschlag auf die Wladimir-Kathedrale der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche im Lemberg erklärte Metropolit Epiphanius I. von der Orthodoxen Kirche der Ukraine: „Wir unterstützen keine Gewalt gegen Geistliche, Gläubige oder Kirchen, die sich gegen ihre Zugehörigkeit zum Moskauer Patriarchat richtet. Wenn sich aber Anhänger dieser Kirche der Zusammenarbeit mit dem Aggressor schuldig gemacht haben und den Interessen des Feindes dienen, müssen sie wegen konkreter Vergehen vor Gericht gestellt werden.“
Ungeachtet der kriegsbedingten Schwierigkeiten feierte der Ukrainische Rat der Kirchen und Religiösen Organisationen sein 25-jähriges Bestehen. Er vertritt mehr als 90 % der religiösen Organisationen der Ukraine und sieht seine Aufgabe darin, den interreligiösen Dialog und die nationale Einheit zu fördern. Die Arbeit des Rates war im Berichtszeitraum vom Krieg und von der Situation der Glaubensgemeinschaften in den besetzten Gebieten beherrscht.
Am 29. September 2022 nahm Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew an einer Gedenkfeier für die Opfer von Babyn Jar teil. Das ist der Ort, an dem die Nationalsozialisten das größte Einzelmassaker an Juden verübt haben.
Im Dezember 2022 verlieh Präsident Selenskyj der Behörde für Ethnische Fragen und Gewissensfreiheit ein schärferes Profil, indem er den bekannten Religionswissenschaftler Viktor Jelensky mit der Leitung beauftragte und die Behörde direkt dem Ministerpräsidenten unterstellte.
Vor der Invasion 2022 waren jährlich zwischen 2000 und 3000 Juden aus der Ukraine nach Israel ausgewandert. Nach Angaben der Jewish Agency for Israel haben im Zeitraum von Januar bis September 2022 insgesamt 13 422 Juden das Land Richtung Israel verlassen.
Im Berichtszeitraum wurden Sachbeschädigungen an christlichen Denkmälern, Holocaust-Gedenkstätten, jüdischen Friedhöfen, Synagogen und Königreichsälen der Zeugen Jehovas gemeldet. Die Polizei nahm in den meisten Fällen, die zur Anzeige gebracht wurden, Ermittlungen auf.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
In der Ukraine ist die Religionsfreiheit besonders in den besetzten Gebieten gefährdet. In den von Kiew kontrollierten Gebieten wurden im Berichtszeitraum Einzelfälle von religiöser Diskriminierung, aber keine systematischen Verstöße gegen die Religionsfreiheit verzeichnet.
Ein Ende des Krieges ist bisher nicht abzusehen. In diesem Kontext ist auch weiterhin mit Verstößen gegen die Menschenrechte zu rechnen. Für das Recht auf Religionsfreiheit bestehen keine guten Aussichten.