Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Laut Verfassung ist die Türkei ein säkularer Staat (Artikel 2). Sie sichert den Bürgern das Recht auf Gewissens-, Glaubens- und Redefreiheit sowie das Recht auf freie Ausübung des Glaubens zu. Artikel 24 untersagt die Diskriminierung aus religiösen Gründen und die Ausnutzung bzw. den Missbrauch von „religiösen Gefühlen oder Gegenständen, die der jeweiligen Glaubensgemeinschaft als heilig gelten“.
Religiöse Angelegenheiten fallen in die Zuständigkeit des Diyanet (Präsidium für Religiöse Angelegenheiten). Die Behörde wurde 1924 gegründet. Nach der Abschaffung des Kalifats wurde sie gemäß Artikel 136 der Verfassung als Nachfolgeinstitution des Schaich-al-Islām eingesetzt, der im Osmanischen Reich die religiöse Autorität darstellte. Die Behörde ist dem Staatspräsidenten unterstellt und fördert die Lehren und Praktiken des sunnitischen Islams. Für das Jahr 2022 stellte die Regierung dem Diyanet 16,09 Mrd. Türkische Lira (1,7 Mrd. US-Dollar, 24 % mehr als 2021) zur Verfügung. Dies übertrifft die Summe, die sieben andere große Ministerien und die meisten staatlichen Institutionen erhalten.
Die Teilnahme am sunnitischen Religionsunterricht ist an staatlichen Grundschulen und weiterführenden Schulen Pflicht. Nur christliche oder jüdische Schüler können sich auf Antrag ihrer Eltern davon befreien lassen. Alevitischen Kindern oder Kindern anderer Glaubensrichtungen bleibt diese Befreiung verwehrt. Die Regierung legt den Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 in Bezug auf „nichtmuslimische Minderheiten“ eng aus und erkennt einen besonderen rechtlichen Minderheitenstatus nur bei drei Glaubensgemeinschaften an: den armenischen Christen, den griechischen Christen und den Juden. Trotz ihres Sonderstatus haben diese Gemeinschaften ebenso wie andere Minderheiten, darunter katholische, syrische, protestantische Christen und Aleviten, keinen Rechtsstatus und können als Gemeinschaft keinen Grundbesitz erwerben oder Rechtsmittel in Anspruch nehmen. Der Erwerb von Grundeigentum ist derzeit nur über eine separate Stiftung möglich.
Der türkische Staat erlaubt nur die Ausbildung sunnitischer Geistlicher, während er die Ausbildungsmöglichkeiten für andere Glaubensgemeinschaften einschränkt. Das griechisch-orthodoxe theologische Seminar auf der Insel Halki bei Istanbul wurde 1971 geschlossen.
Die jüdische Gemeinschaft in der Türkei kann ihren Glauben frei ausüben. Synagogen stehen unter staatlichem Schutz. Antisemitismus ist in der Türkei weiterhin ein Problem, vor allem in der Presse und in den sozialen Medien. Dort verbreiteten türkische User während der Covid-19-Pandemie antisemitische Verschwörungstheorien. Dennoch ist die Türkei das einzige mehrheitlich muslimische Land, das aktiv mit der International Holocaust Remembrance Alliance (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) zusammenarbeitet.
Nach Informationen der Generaldirektion für Migrationsmanagement befanden sich am Stichtag18. Mai 2022 einschließlich der syrischen Flüchtlinge 5.506.304 ausländische Staatsbürger in der Türkei, die unter internationalem Schutz standen. Seit 2014 sind tausende arabisch sprechende Christen (vor allem chaldäische und syrische) ins Land gekommen. Diese Flüchtlinge, die in mehr als 80 türkischen Kommunen untergebracht sind, müssen am Ort ihrer Registrierung bleiben, um finanzielle Unterstützung vom Staat zu erhalten. Zwar haben sie eine Arbeitserlaubnis, doch auch diese gilt nur am Registrierungsort. Die genaue Anzahl nichtmuslimischer Flüchtlinge, die in türkischen Kommunen leben, ist unbekannt. Christliche Flüchtlinge haben keine Versammlungsräume oder Gebetsstätten, wo sie ihren Glauben ausüben könnten. Aufgrund der staatlich eingeschränkten Bewegungsfreiheit können sie auch keine Gottesdienste an anderen Orten besuchen.
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
Im Berichtszeitraum nahmen die Verstrickungen von Politik und Religion in der Türkei weiter zu, was für die Bürger des Landes und seiner Nachbarländer schwerwiegende Folgen hat. Seit die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 2002 an die Macht kam, strebt die Türkei eine Führungsrolle in der islamischen Welt an. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat insbesondere nach 2016 den Islam in den Mittelpunkt der türkischen Politik gerückt und nutzt ihn, um seine Ziele durchzusetzen. Darüber hinaus setzt er auf wirtschaftspolitische Mittel, um an Einfluss zu gewinnen und das Image der Türkei in islamischen Ländern, vor allem in Afrika, zu stärken. Mit Hilfe der Religionsbehörde Diyanet treibt die Türkei ihre Expansionspläne etwa durch den Bau von Moscheen und religiösen Einrichtungen und durch die Unterstützung von Wohlfahrtsorganisationen und muslimischen Gemeinden voran.
Die internationalen politischen Entwicklungen wirkten sich auch auf die Glaubensgemeinschaften in der Türkei aus. Hier sind besonders der anhaltende Konflikt zwischen dem von der Türkei militärisch unterstützten Aserbaidschan und Armenien sowie die russischen Asylsuchenden zu nennen, die ihr Land verlassen, um nicht für den Militäreinsatz im Ukrainekrieg eingezogen zu werden. Diese externen Faktoren hatten negative Auswirkungen auf die Toleranz der Bürger, wie sich in den sozialen Medien beobachten lässt. Im Berichtszeitraum griffen Hassparolen gegen Armenier und ausländerfeindliche Kommentare über die nichtmuslimischen und wohlhabenderen russischen Neuankömmlinge um sich – unheilvolle Anzeichen für eine Gefährdung der Religionsfreiheit im Land.
Die Situation der religiösen Minderheiten im Land ist mit dem vergleichbar, was Papst Franziskus einmal als „gewaltfreie Verfolgung“ bezeichnet hat. So werden den nichtmuslimischen Gemeinschaften etwa durch Gesetzesänderungen bürokratische Hürden in den Weg gestellt, die sie unter anderem auch an ihren sozialen Aktivitäten hindern und die Handlungsfreiheit ihrer Gläubigen erheblich einschränken. Langfristig werden diese repressiven Maßnahmen wohl dazu führen, dass religiöse Minderheiten die Türkei verlassen.
Ein hervorstechendes Beispiel sind die unzähligen Vorschriften, die den „religiösen Stiftungen“, also den staatlich anerkannten Verwaltungsstellen der Glaubensgemeinschaften, auferlegt werden. Die Stiftungen verwalten alle rechtlichen und finanziellen Aspekte des Vermögens nichtmuslimischer Glaubensgemeinschaften, wie unter anderem Schulen, Kirchen, Krankenhäuser und Pflegeheime. Es gibt in der Türkei insgesamt 167 Minderheitenstiftungen. Davon gehören 77 griechisch-orthodoxen, 54 armenischen, 19 jüdischen, 10 assyrisch-orthodoxen, 3 chaldäischen, 2 bulgarisch-orthodoxen, eine georgisch-orthodoxen und eine maronitischen Gemeinden.
Die letzten Wahlen für die Leitungsgremien der Minderheitenstiftungen fanden 2010 statt, wobei die Mitglieder für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt wurden. 2013 wurde die bis dahin geltende Wahlordnung plötzlich ausgesetzt. So kam es zu administrativen Problemen. Unter der Verantwortung der zuständigen Generaldirektion hätte innerhalb von sechs Monaten eine neue Wahlordnung in Kraft gesetzt werden müssen. Aber diese ließ bis zum 18. Juni 2022 auf sich warten. Trotz diverser Unsicherheiten sollten gemäß den neuen Bestimmungen 2022 Wahlen stattfinden. Aber damit waren schwerwiegende Probleme verbunden. Die vage formulierten Bestimmungen sehen unter anderem vor, dass die von den Kirchen betriebenen Krankenhäuser und anderen Gesundheitseinrichtungen dem Gesundheitsministerium unterstellt wurden.
Die Anzahl der Vorstandsmitglieder in den Stiftungen und die Aufteilung von Gebieten wurden neu festgelegt. So müssen Personen, die für das Leitungsgremium einer Minderheitenstiftung kandidieren, schon mindestens sechs Monate in einem bestimmten Gebiet gewohnt haben, unabhängig davon, ob dort überhaupt andere Angehörige ihrer Glaubensgemeinschaft leben. Diese einschränkende Vorschrift hat erhebliche Auswirkungen auf sehr kleine christliche Gemeinschaften, deren Gläubige weit verstreut im Land leben, die aber trotz der Distanz bestimmte Einrichtungen ihrer Gemeinschaft nutzen – zum Beispiel die armenischen Schulen. Auch die griechisch-orthodoxen Gemeinden haben zum Teil nur wenige Wähler und erreichen nicht die Vorgaben der neuen Wahlordnung. Damit können sie kein eigenes Leitungsgremium einsetzen und müssen ihre Stiftung notgedrungen aufgeben. Assyrische und jüdische Gemeinden stehen vor demselben Problem, weil ihre Stiftungen nicht am gleichen Ort wie die Gemeinden angesiedelt sind.
Die drei Diözesen der römisch-katholischen Kirche in der Türkei – Istanbul, Izmir und Anatolien – versuchten die gesetzlichen Hürden zu überwinden, indem sie für die Verwaltung ihrer Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser, Kirchen und Pflegeheime andere Möglichkeiten suchten. So wurden in zwei Diözesen entsprechende Vereine gegründet und die dritte setzte ihre Aktivitäten mit Hilfe eines schon bestehenden Wirtschaftsunternehmens fort.
Die fehlenden Ausbildungsstätten für Priester sind ein weiteres großes Problem aller christlichen Glaubensgemeinschaften in der Türkei. Die zahlreichen bürokratischen Fallstricke, die dazu führen, dass religiöse Minderheiten Einrichtungen schließen müssen, haben neben einem Personalrückgang in den Schulen und Krankenhäusern auch einen Rückgang der Berufungen zur Folge.
2022 wurden in der Türkei 186 protestantische Kirchen und Gemeinden unterschiedlicher Größenordnung verzeichnet, die überwiegend in Istanbul, Ankara und Izmir angesiedelt sind. Die meisten protestantischen Gemeinden feiern ihre Gottesdienste nicht in traditionellen Kirchengebäuden, sondern in umgewidmeten Gebäuden, Geschäftsräumen oder Lagerhallen, die von ihren Vereinen oder Stiftungen angemietet oder gekauft werden. Da diese Versammlungsorte keine staatlich anerkannten Gebetsstätten sind, profitieren die Gemeinden nicht von den sonst üblichen Vergünstigungen bei der Strom- und Wasserversorgung oder von Steuervorteilen. Wenn sie sich öffentlich als Kirche präsentieren würden, könnte ihnen als illegale Einrichtung die Schließung drohen. Zurzeit haben 119 protestantische Gemeinden in der Türkei einen anerkannten Rechtsstatus. Von den übrigen Gemeinden versammeln sich etwa 15 in privaten Räumlichkeiten und sechs in Geschäftsräumen. Rund 13 protestantische Gemeinden feiern ihre Gottesdienste in historischen Kirchenbauten. Daneben gibt es noch Gemeinden, die für ihre Gottesdienste öffentliche Räume nutzen oder anmieten. Die Zahl der Seelsorger aus dem Ausland ist in letzter Zeit deutlich gestiegen, obwohl viele protestantische Geistliche an der Einreise in die Türkei gehindert oder zur Ausreise gezwungen werden.
Trotz der Herausforderungen sieht der katholische Erzbischof von Izmir, Martin Kmetec, die wachsenden Beziehungen unter den christlichen Konfessionen sowie die Wertschätzung für die gemeinnützigen Aktivitäten der katholischen Kirche wie Lebensmittelausgaben und Gesundheitseinrichtungen in der gesamten Bevölkerung als Zeichen der Hoffnung. Anlässlich des „Tags der Geschwisterlichkeit“ übergab der Erzbischof dem örtlichen Imam türkischsprachige Ausgaben der Enzykliken Fratelli tutti und Laudato Si‘.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Die religiösen Minderheiten in der Türkei werden nicht gewaltsam verfolgt, aber durch gesetzliche Maßnahmen systematisch diskriminiert. Die restriktiven rechtlichen Rahmenbedingungen und der gesellschaftliche Druck lassen in diesem Land, das einst für seinen multikulturellen Charakter bekannt war, eine monoreligiöse und monokulturelle Gesellschaft entstehen. Für das Recht auf Religionsfreiheit bestehen daher in der Türkei weiterhin keine guten Aussichten.