Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Tunesien ist seit 1969 Vertragsstaat des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und hat im Jahr 2011 ebenfalls das Fakultativprotokoll zur Anerkennung von Individualbeschwerdeverfahren unterzeichnet.
Die überwiegende Mehrheit der tunesischen Bürger sind sunnitische Muslime, zudem gibt es eine sehr kleine Gemeinschaft von Shi’a-Muslimen. Unter den Minderheitenreligionen fallen die christlichen Gemeinschaften mit 23 090 Mitgliedern auf (davon 19 000 Katholiken und 1070 Protestanten), obwohl ihre Zahl in jüngster Zeit aufgrund von Zuwanderung aus etwa 70 verschiedenen Ländern zugenommen hat. Die meisten von ihnen (Studierende, junge Fachkräfte, Hausangestellte, Bauarbeiter usw.) kommen aus Ländern südlich der Sahara, aber auch aus Europa und dem Nahen Osten. Bei den übrigen Christen im Land handelt es sich überwiegend um Staats- oder Unternehmensvertreter und Entwicklungshelfer. Hinzu kommen Frauen aus „Mischehen“ und der ehemals ansässigen Gemeinschaft, die teilweise eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzen. Vor der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956 lebten 100 000 Juden in Tunesien, heute sind es weniger als 2000. Mit ihrer Abwanderung verschwand auch ein großer Teil des jüdischen Erbes aus Tunesien. In Sousse, Monastir und Nabeul bemüht sich die tunesische jüdische Gemeinde mit Unterstützung der örtlichen Behörden um die Wiederherstellung der Stätten einer vergessenen religiösen Kultur. Daneben gibt es auch eine kleine Bahai-Gemeinde (2364) in Tunesien.
In den Berichtszeitraum fallen mehrere nennenswerte Gesetzesänderungen. Allerdings beeinträchtigte der Ausnahmezustand, der am 24. Juni 2021 aufgrund der Covid-19-Pandemie verhängt und anschließend bis zum 31. Dezember 2023 verlängert worden war, deren Umsetzung. Nach zwei Präsidialerlassen im Juli 2021 war die Regierung nicht mehr handlungsfähig; die Befugnisse des Parlamentes waren ausgesetzt. Daraufhin kündigte der Präsident am 13. Dezember 2021 weitere Änderungen an. Dazu zählten das Aussetzen des Parlamentes, das Abhalten von Neuwahlen am 17. Dezember 2022 und ein Referendum über eine Verfassungsänderung. Präsident Kaïs Saïed hatte bereits im Februar 2022 den Obersten Rat der Justiz aufgelöst und im Juni desselben Jahres 57 Richter entlassen. Die neue tunesische Verfassung wurde am 25. Juli 2022 per Referendum angenommen und trat am 17. August 2022 in Kraft. Sie wurde mit 94,6 Prozent der Stimmen angenommen, wobei die Wahlbeteiligung mit 30,5 Prozent sehr niedrig lag. Noch geringer war die Beteiligung an den Parlamentswahlen am 17. Dezember 2022 (nur 11,22 Prozent der Wähler), nachdem die meisten politischen Parteien die Abstimmung boykottiert hatten. Auch bei der zweiten Wahlrunde am 29. Januar 2023 war die Beteiligung mit rund 11,3 Prozent niedrig.
Die neue Verfassung von 2022 soll die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantieren (Artikel 27) und die freie Ausübung der Religion („Kulte“) schützen, „solange sie die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet“ (Artikel 28). Die Präambel betont, dass sich das tunesische Volk „für die menschliche Dimension der islamischen Religion“ einsetzt, Tunesien sich als „Teil der islamischen Nation“ sieht und die Absicht des Staates, „in einem demokratischen Regime auf die Verwirklichung der Berufungen des authentischen Islams hinzuarbeiten, die darin bestehen, Leben, Ehre, Eigentum, Religion und Freiheit zu schützen“ (Artikel 5), und durch die Schulpflicht zu gewährleisten, „dass die jungen Generationen in ihrer arabischen und islamischen Identität sowie nationalen Zugehörigkeit verwurzelt sind“ (Artikel 44, Absatz 3). Die Religionszugehörigkeit des Präsidenten als Staatsoberhaupt wird in der Verfassung mit muslimisch angegeben (Artikel 88).
Die weitreichenden Präsidentenbefugnisse , die in den Artikeln 80 (Rückgriff auf Präsidialdekrete im Falle der Auflösung der Versammlung der Volksvertreter) und 96 (unmittelbare Gefahr, die die Institutionen der Republik, die Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes bedroht und das ordnungsgemäße Funktionieren der Behörden behindert) verankert sind, gelten Vielen als bedenklich, da es in den genannten Artikeln keine explizite Abgrenzung gegenüber der Missachtung bestimmter Menschenrechte (darunter das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) gibt, die aber in Artikel 4. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte als unantastbar festgelegt sind.
Mit dem Durchsetzen eines weiteren Präsidialdekrets zur Bekämpfung von Straftaten im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationssystemen im September 2022 nahmen die Befürchtungen zu, der zivilgesellschaftliche Freiraum könne eingeschränkt werden: Artikel 24 sieht bis zu fünf Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 50.000 tunesischen Dinar (15.000 Euro) für die Herstellung, Förderung oder Veröffentlichung von nicht näher definierten „falschen Nachrichten oder Gerüchten“ vor. Ebenso droht eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren, wenn sich eine solche Handlung gegen Amtsträger richtet.
Nach Artikel 317.1 des Strafgesetzbuches (Abschnitt III: Straftaten gegen die öffentliche Sicherheit bzw. öffentliche Ruhe) wird der Ausschank alkoholischer Getränke an Muslime mit einer Freiheitsstrafe von 15 Tagen und einer Geldstrafe belegt.
Die Antiterrorgesetze sehen eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren und eine Geldstrafe von 10.000 Dinar (3.000 Euro) vor, wenn jemand „andere der Apostasie bezichtigt oder dazu aufruft oder zu Hass oder Feindseligkeit zwischen Rassen, Doktrinen und Religionen aufstachelt“ (Artikel 14.8): Ferner droht eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren sowie eine Geldstrafe von 100.000 Dinar (30.000 Euro), wenn es zu Körperverletzungen kommt. Die Einschränkung oder Störung der Religionsausübung wird mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und einer Geldstrafe von 120 Dinar (36 Euro) geahndet (Artikel 165). Jemanden durch Gewalt oder Drohungen zu zwingen, eine Religion auszuüben oder dieses zu unterlassen, wird mit drei Monaten Haft bestraft (Artikel 166). Artikel 226 des Strafgesetzbuches stellt öffentliche Anstößigkeit unter Strafe und sieht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten und eine Geldstrafe von 48 Dinar (14 Euro) vor. Verstöße gegen das Fastengebot während des Ramadan fallen ebenfalls unter Artikel 226 und werden auf dessen Grundlage bestraft.
Das Personenstandsgesetz, mit dem auch das Sorgerecht geregelt wird, besagt, dass „der Erziehungsberechtigte, der einer anderen Konfession als der des Kindesvaters angehört, dieses Recht nur ausüben kann, solange das Kind das fünfte Lebensjahr noch nicht vollendet hat und kein Grund zur Befürchtung besteht, das Kind könne in einer anderen Religion als der seines Vaters erzogen werden“. Im Hinblick auf die Erbfolge ist ein Testament auch dann gültig, wenn der Erblasser und der Vermächtnisnehmer nicht demselben Glauben angehören.
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
Im August 2021 wurde Slimane Bouhafs, zum Christentum konvertierter Algerier und seit 2018 als Flüchtling in Tunesien, in der Stadt Ettahrir entführt und gewaltsam nach Algerien zurückgebracht, wo er wegen Terrorismus angeklagt wurde. Im Jahr 2016 war er wegen „beleidigender Äußerungen“ in sozialen Netzwerken „gegen die Religion des Landes und des Propheten“ zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Anfang Februar 2022 wurde eine von der lokalen Nichtregierungsorganisation Attalaki geförderte „Nationale Charta für friedliche Koexistenz“ von Vertretern religiöser Gemeinschaften wie Juden, Evangelikalen, Bahai, Sufis und Schiiten unterzeichnet. In der Charta, die rechtlich nicht bindend ist, wird dazu aufgerufen, Gewalt, Extremismus und Hass ein Ende zu setzen und die Rechte religiöser Minderheiten auf abweichende Meinung und öffentliche Bekundung ihrer Überzeugungen zu garantieren.
Im April 2022 wurden vier Personen – zwei Angestellte und zwei Besucher eines Cafés – im Stadtteil Manouba im Großraum Tunis verhaftet, nachdem die Polizei alarrmiert worden war. Die vier Personen wurden wegen öffentlicher Unsittlichkeit gemäß Artikel 226 des Strafgesetzbuchs und wegen Verstoßes gegen die Gemeindeordnung verhaftet, da sie während der Fastenzeit ein Lokal aufsuchten, das ohne Genehmigung geöffnet hatte. Die Anklage wurde jedoch vom Bezirksrichter wieder fallen gelassen.
Neben den gesetzlichen Bestimmungen berufen sich die lokalen Behörden auch auf den berüchtigten „Geistererlass“ vom Juli 1981, der während der Amtszeit des ehemaligen Premierministers Mohamed Mzali in Kraft getreten war. Dieser Erlass wird jedes Jahr zu Ramadan angewandt, um Cafés und Restaurants zur Schließung zu zwingen und gleichzeitig Nichtfastende zu bestrafen. Jedes Jahr werden Bars und Restaurants, in denen Alkohol angeboten wird, von der Polizei kontrolliert (sogar Touristenrestaurants) und zur Schließung gezwungen. Sie begründet ihr Vorgehen dann mit dem Verweis auf einen religiösen Feiertag (Freitag, Ramadan oder ein anderes religiöses Fest). Dies hat in einigen Teilen der Gesellschaft eine Kontroverse ausgelöst. Einige Cafés und Restaurants bleiben zwar geöffnet, schenken aber keinen Alkohol mehr aus, der auch nicht in Supermärkten verkauft wird.
Einige Medien wurden von der tunesischen Aufsichtsbehörde HAICA (High Independent Authority for Audio-visual Communications) in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt, darunter der religiöse Radiosender Quran Kareem, der seit Jahren ohne Lizenz arbeitet und dem vorgeworfen wird, „Hassreden zu verbreiten, um zu Gewalt und Hass anzustiften“. Am 17. März 2022 richtete die HAICA ein Schreiben an den tunesischen Fernsehsender el-Wataniya 1, in dem sie dessen am 3. März 2022 ausgestrahlte Sendung „Religion ist ein Wert“ wegen der „Instrumentalisierung der Religion für politische Propaganda“ anprangerte und sich dabei auf die Bestimmungen des Gesetzesdekrets Nr. 116 aus dem Jahr 2011 sowie die Regeln und Ethik des journalistischen Berufsstands berief. HAICA hob die Sendung „Eddin Kiyam“ vom 3. März hervor, in der das mangelnde Interesse junger Menschen an der landesweiten Erhebung thematisiert wurde und die Macher auf die Bedeutung der Schura im Islam verwiesen, um sie zur Teilnahme an der Erhebung zu bewegen. Wegen unangemessener Darstellung einer religiösen Figur in der Sendung „Naby Errahma“ vom 7. Oktober, dem Tag des „Mawlid“ (Geburtstag des islamischen Propheten Mohammed), erhielt derselbe Fernsehsender am 20. Oktober 2022 eine weitere Rüge. Die tunesische Medienaufsichtsbehörde schloss auch Zitouna TV, ein lokales Fernsehprogramm, das von der größten Parlamentspartei Ennahdha unterstützt wird, weil es ohne Genehmigung sendet.
Fast 5000 Besucher nahmen an der traditionellen jüdischen Ghriba-Wallfahrt (bis 22. Mai 2022) auf der tunesischen Insel Djerba teil, die nach zweijähriger Unterbrechung wegen der Covid-19-Pandemie wieder stattfinden konnte. Die älteste afrikanische Synagoge zieht tunesische Juden aus der ganzen Welt an. Obwohl die jüdische Gemeinde im Maghreb insgesamt stark geschrumpft ist, ist sie auf Djerba nach wie vor stark vertreten.
Obwohl Missionierungen in Tunesien seit der Unabhängigkeit des Landes verboten sind, konvertieren jedes Jahr eine Handvoll Tunesier zum Christentum und feiern Weihnachten, häufiger in der christlichen Gemeinschaft als mit ihren Familien, da das Thema immer noch tabu ist. Derzeit gibt es neun katholische Schulen, die in das tunesische Schulsystem integriert sind und unter der Zuständigkeit der Erzdiözese Tunis stehen. Die traditionelle jährliche Prozession der Madonna von Trapani in La Goulette anlässlich des Festes Mariä Himmelfahrt am 15. August wurde 2017 wiederbelebt. Seitdem hat sie Hunderte von Christen und Muslimen in ihren Bann gezogen, ebenso wie die Bürgermeister von Tunis und La Goulette. Die Feierlichkeiten wurden ins Leben gerufen, nachdem Tunesiens muslimischer Herrscher Ahmed Bey – dessen Mutter eine sardische Christin war – 1848 ein Stück Land für den Bau einer Kirche gestiftet hatte.
Im November 2022 empfahl der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit Tunesien, dafür zu sorgen, dass die Gemeinschaft der Bahai als Rechtspersönlichkeit anerkannt wird, damit die Mitglieder ihren Glauben gemäß Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte praktizieren können.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Obwohl es einige, wenn auch nur symbolische, Gesten der Anerkennung des Grundrechts auf Religionsfreiheit gegeben hat – insbesondere die Unterzeichnung der „Nationalen Charta für friedliche Koexistenz“ –, werden die Maßnahmen für eine „friedliche Koexistenz“ durch die Tatsache untergraben, dass ein „Abfallen vom Glauben“ und die Missionierung nach wie vor strafbar sind und dass es keine Möglichkeit gibt, eine andere Religion als die des Vaters zu wählen. Tunesien ist nach wie vor ein Land, in dem die Religionsfreiheit eingeschränkt ist. Und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich dies ändern wird. Die Aussichten für die Religionsfreiheit bleiben düster.