Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Pakistan wurde im Jahr 1947 im Zuge der Teilung Britisch-Indiens als säkularer Staat gegründet. Unter der Diktatur von General Mohammed Zia-ul-Haq, der Pakistan von 1977 bis 1988 regierte, nahm eine starke Islamisierung des Landes ihren Anfang, die mit zunehmender Einführung von Grundsätzen der Scharia auch das pakistanische Rechtssystem betraf.
Die Bevölkerung besteht fast ausschließlich aus Muslimen – überwiegend Sunniten (85–90 %), von denen 90 % der Hanafi-Schule folgen. Der Anteil der Schiiten liegt bei etwa 10–15 %.
Zu den religiösen Minderheiten gehören Christen, Hindus und Anhänger der Ahmadiyya-Bewegung. Des Weiteren leben in Pakistan rund 33.000 Bahai, 6.146 Sikhs und über 4.000 Parsen. Noch etwa 200 Juden leben über das ganze Land verstreut; ihre Gemeinschaft wird in Pakistan möglichweise bald verschwinden.
Die wichtigsten ethnischen Gruppen sind (in Prozent): Punjabis (44,7), Paschtunen (Pathanen, 15,4), Sindhi (14,1), Saraikis (8,4), Muhajir (7,6), Belutschen (3,6) und andere (6,3).
Pakistan ist Unterzeichner der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und hat 2010 den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) ratifiziert. Gemäß Artikel 18 verpflichtet sich das Land damit der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit für sein Volk.
Die pakistanische Verfassung von 1973 (die mehrfach geändert wurde, zuletzt im Jahr 2018) besagt zwar in Artikel 2, dass „der Islam die Staatsreligion Pakistans“ sei, gleichzeitig garantiert das Dokument auch religiösen Minderheiten Rechte. So sind laut Verfassungspräambel „angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit Minderheiten ihre Religionen frei bekennen und ausüben sowie ihre Kulturen entwickeln können“. Artikel 20 erkennt ferner in seinen beiden Klauseln an, dass „jeder Bürger das Recht hat, sich zu seiner Religion zu bekennen, sie auszuüben und zu verbreiten“, und dass jede religiöse Gemeinschaft „das Recht hat, eigene religiösen Einrichtungen zu gründen, zu unterhalten und zu verwalten“.
Gemäß Artikel 21 darf „niemand zur Zahlung besonderer Steuern gezwungen werden, die zum Zweck der Verbreitung oder des Erhalts einer anderen Religion erhoben werden“. Artikel 22 regelt den „Schutz der Bildungseinrichtungen in Bezug auf die Religion“ und fügt hinzu, dass „niemand, der eine Bildungseinrichtung besucht, zur Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtet werden darf“. Darüber hinaus wird festgelegt, dass „keine Religionsgemeinschaft oder Konfession daran gehindert werden darf, Religionsunterricht für Schüler dieser Gemeinschaft zu erteilen“.
Dieser Artikel scheint jedoch nicht in vollem Umfang Anwendung zu finden, insbesondere nachdem die Regierung von Premierminister Imran Khan im Jahr 2021 den so genannten einheitlichen nationalen Lehrplan (Single National Curriculum, SNC) für Grundschulen und Seminare eingeführt hat. Der SNC wurde von Bildungsexperten und Menschenrechtsaktivisten heftig kritisiert, weil er nicht inklusiv ist, islamisch-religiöse Inhalte auf Kosten religiöser Minderheiten überbetont und pädagogische Schwächen aufweist. Grundsätzlich wird in Lehrplänen und Schulbüchern häufig Intoleranz gegenüber Minderheiten propagiert.
Die pakistanische Menschenrechtskommission äußerte ihre Besorgnis darüber, dass die Regierung durch den SNC in den Bildungseinrichtungen eine einseitige Sichtweise der Religion verstetige und damit Schülern das Recht auf eine säkulare Bildung vorenthalte. Darüber hinaus werden Schüler, die einer religiösen Minderheit angehören, daran gehindert, ihre eigene Religion zu vertiefen, da seit 2021 die erforderlichen Lehrbücher für den Religionsunterricht nicht mehr zur Verfügung stehen.
In der Provinz Punjab ist die Situation in dieser Hinsicht noch kritischer. Im November 2021 wies das Oberste Gericht von Lahore Bezirksrichter zu Inspektionen des Koranunterrichts in Schulen in der gesamten Provinz an.
Artikel 41 ist ein weiteres Beispiel für Diskriminierung in der pakistanischen Verfassung: In ihm wird festgelegt, dass „nur Personen muslimischen Glaubens in das Präsidentenamt gewählt werden dürfen“. Das Amt des Premierministers ist nach Artikel 91 (3) ebenfalls Muslimen vorbehalten. Nach Artikel 203 (E) hat das pakistanische Bundes-Schariagericht die Befugnis, jedes Gesetz, das nicht mit islamischem Recht konform ist, für ungültig zu erklären und Änderungen vorzuschlagen.
Artikel 260 (3) der Verfassung unterscheidet zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Damit schürt die Verfassung religiöse Voreingenommenheit und diskriminierende Haltungen, etwa gegenüber der Gemeinschaft der Ahmadiyya, die explizit als nicht-muslimisch bezeichnet wird.
Die so genannten Blasphemiegesetze – von General Zia-ul-Haq zwischen 1982 und 1986 in das pakistanische Strafgesetzbuch aufgenommen (Abschnitte 295-B, 295-C, 298-A, 298-B, 298-C) – schränken die Religionsfreiheit stark ein. So werden nach diesen etwa die „Schändung“ des Koran und die Beleidigung des Propheten Mohammed als strafbare Handlungen eingestuft, die mit lebenslanger Haft bzw. der Todesstrafe geahndet werden. Da der Begriff „Blasphemie“ zudem recht weit gefasst ist, kann er leicht missbraucht werden, um verschiedene Arten von Verhalten – z. B. auch Respektlosigkeit gegenüber Menschen, Kultgegenständen, Bräuchen und Glaubensvorstellungen – zu sanktionieren.
Während ein allgemeiner Schutz gegen jede Form der Beleidigung und Verunglimpfung aller Religionen formell anerkannt wird, beziehen sich die Abschnitte 295-A, 295-B und 295-C sowie 298-B und 298-C auf Handlungen, die ausschließlich als blasphemisch gegen die islamische Religion angesehen werden. Da das pakistanische Rechtssystem nicht nur auf dem Common Law, sondern auch auf der Scharia beruht, werden die fraglichen Vorschriften nur zugunsten des Islam angewandt.
Insgesamt wurden zwischen 1947, als Pakistan unabhängig wurde, und 1986, als das letzte „Blasphemiegesetz“ eingeführt wurde, nur sechs Fälle von Blasphemie registriert; im Vergleich dazu wurden nach der Aufnahme der Abschnitte 298-B und 298-C in das Strafgesetzbuch 1.949 Fälle gemeldet, so das in Lahore ansässige Zentrum für soziale Gerechtigkeit (CSJ).
Nach Ansicht des CSJ sind religiöse Minderheiten unverhältnismäßig stark von den Blasphemiegesetzen betroffen. Die meisten Fälle (47,62 %) betreffen Muslime, gefolgt von Ahmadis (32,99 %), Christen (14,42 %) und Hindus (2,15 %), während in 2,82 % der Fälle die Religion nicht bestätigt werden konnte. In über 49 Prozent der Fälle sind damit Minderheiten betroffen, die nur 3,5 % der pakistanischen Bevölkerung ausmachen.
Auch bei Ermordungen im Zusammenhang mit Blasphemie und anderen Formen von Gewalt sind Minderheiten überrepräsentiert. Ein Beispiel hierfür ist der Lynchmord an Priyanka Kumara im Jahr 2021 in Sialkot. Seit 1987 wurden mindestens 84 Menschen aufgrund von Blasphemievorwürfen außergerichtlich getötet. Davon waren 42 Muslime, 23 Christen, 14 Ahmadis, zwei Hindus, ein Buddhist und zwei Personen, deren Religionszugehörigkeit unbekannt war.
Weitere seinerzeit von General Zia-ul-Haq vorgenommene Änderungen betrafen die Abschnitte 298-B und 298-C des pakistanischen Strafgesetzbuches. Mit den darin enthaltenen Bestimmungen steht es für Ahmadis unter Strafe, sich als Muslime zu bezeichnen, Namen und Bezeichnungen zu verwenden, die mit dem Propheten Mohammed in Verbindung gebracht werden, muslimische Praktiken im Gottesdienst anzuwenden und ihren Glauben zu propagieren. Laut der Website „The Persecution of Ahmadis“ (Verfolgung von Ahmadis) wurden von 1984 bis 2019 262 Ahmadis wegen ihres Glaubens getötet, 388 wurden Opfer von Gewalt und 29 Ahmadi-Moscheen wurden zerstört. Zwischen Juli 2020 und September 2021 wurden sieben Ahmadis ermordet, darunter der 57-jährige Tahir Naseem, ein amerikanischer Staatsbürger, der der Blasphemie beschuldigt wurde und in einem pakistanischen Gerichtssaal erschossen wurde, während er auf seinen Prozess wartete. Mindestens sieben weitere Personen wurden bei versuchten Attentaten verwundet.
Im Mai 2020 gab das Ministry of Religious Affairs and Interfaith Harmony (Ministerium für religiöse Angelegenheiten und interreligiöse Harmonie) die Wiedereinrichtung der Nationalen Kommission für Minderheiten bekannt. Zu deren Aufgaben gehört unter anderem die Instandhaltung nicht-muslimischer Gebetsstätten. Nach dem Anschlag auf die Allerheiligenkirche in Peschawar im Juni 2014 hatte der Oberste Gerichtshof Pakistans die pakistanische Bundesregierung mit der Einrichtung einer solchen Kommission beauftragt. Seit der Ermordung von Shahbaz Bhatti (dem ersten und bisher einzigen Bundesminister für Minderheiten) im Jahr 2011 hatte es keine Organisation mehr gegeben, die die Interessen religiöser Minderheiten auf Bundesebene vertrat. Die Kommission wurde jedoch nicht durch ein Gesetz des Parlaments, sondern durch ein Bundeskabinett eingesetzt und hat daher keine verfassungsrechtlichen Befugnisse.
Darüber hinaus wurde das Gesetz zum Schutz der Rechte von Minderheiten, das der Senat im September 2020 abgelehnt hatte, nicht wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Senator Hafiz Abdul Karim, Mitglied des ständigen Ausschusses für religiöse Angelegenheiten und interreligiöse Harmonie, gehörte zu den Gegnern des Gesetzesvorschlags. Seiner Ansicht nach sollte stattdessen ein Gesetzesentwurf zum Schutz der Rechte der Muslime vorgelegt werden, da „den Minderheiten in Pakistan bereits mehrere Rechte gewährt wurden“.
Wie in der Vergangenheit verabschiedete die Provinzversammlung von Punjab im Berichtszeitraum einstimmig mehrere rückwärtsgewandte Beschlüsse zugunsten einer konservativen Gesetzgebung. Im Jahr 2021 etwa wurde beschlossen, dass in Büros der Provinzregierungen Koranverse und Hadithe ausgehängt werden müssen. Des Weiteren wurde im Oktober 2021 beschlossen, einen Eid, der sich auf die Endgültigkeit des Heiligen Propheten (khatm-i-nabuwat) bezieht, in Heiratsurkunden (nikah) aufzunehmen. Danach ist die sogenannte „Khatm-i-nabuwat“-Bescheinigung für die Braut, den Bräutigam, ihre Trauzeugen und die Standesbeamten (nikahkhwan) obligatorisch.
Wie im Abschnitt „Vorfälle und Entwicklungen“ weiter unten dargelegt, sind Minderheiten weiterhin von Entführungen, Zwangskonvertierungen und Zwangsehen betroffen. Dies ist auch auf den mangelnden Rechtsschutz zurückzuführen. Am 13. Oktober 2021 lehnte ein parlamentarischer Ausschuss ein Gesetz zur Bekämpfung von Zwangskonversionen ab, nachdem das Ministerium für religiöse Angelegenheiten sich dagegen ausgesprochen hatte. Abgeordnete aus Minderheiten kritisierten das negative Votum. Nach dem Gesetzesentwurf hätte jeder erwachsene Nicht-Muslim, der zu einer anderen Religion konvertieren wollte, bei einem zusätzlichen Sitzungsrichter eine Konversionsbescheinigung beantragen müssen. Der Gesetzesentwurf sah außerdem vor, Konversionen erst ab 18 Jahren zu erlauben. Der damalige Minister für religiöse Angelegenheiten, Noor-ul-Haq Qadri, sagte, das Ministerium unterstütze diese Einschränkung des Religionsübertritts vor dem 18. Lebensjahr nicht, da auch junge Menschen das Recht haben sollten, ihre Religion zu wählen.
Im Hinblick auf die Häufigkeit von Kinderehen (also von Mädchen, die vor der Vollendung des 18. Lebensjahres verheiratet werden) belegt Pakistan weltweit den 6. Platz. In 71 Prozent der Fälle haben die Mädchen kein Mitspracherecht, wen und wann sie heiraten. Zu diesen Ergebnissen kommen ein Kurzbericht über den rechtlichen Rahmen der Kinderehe in Pakistan sowie eine im Oktober 2022 veröffentlichten Umfrage der National Commission on the Rights of Child (Nationale Kommission für die Rechte des Kindes, NCRC), die in Zusammenarbeit mit UNICEF Pakistan durchgeführt wurde.
Aufgrund des Fehlens einschlägiger Rechtsvorschriften und der falschen Anwendung der bestehenden Gesetze nimmt die Zahl junger hinduistischer und christlicher Frauen und Mädchen, die entführt, zu Scheinkonversionen zum Islam gezwungen und dann mit muslimischen Männern verheiratet werden, weiter zu.
Der Sindh gehört zu den Provinzen mit den meisten Fällen und ist die einzige Provinz mit einem Gesetz, das die Heirat von Minderjährigen verbietet (dem sogenannten „Sindh Child Marriage Restraint Act“ von 2013). Dank dieses 2020 in Kraft getretenen Gesetzes konnten einige entführte Mädchen an ihre Familien zurückgegeben werden. Das Gesetz weist jedoch immer noch einige Mängel auf; so gestattet es beispielsweise nicht, islamische Ehen zu annullieren, selbst wenn die Minderjährigkeit der Braut festgestellt wurde. Außerdem ist es Mädchen oft nicht erlaubt, zum christlichen Glauben zurückzukehren, wie im Fall der 14-jährigen Arzoo Raja, jetzt Arzoo Fatima. Das Mädchen musste sich, nachdem es zu seinen Eltern zurückgekehrt war, per Gerichtsbeschluss alle drei Monate auf der Polizeiwache melden und nachweisen, dass es nicht unter Druck gesetzt wurde, zum christlichen Glauben zurückzukehren.
Die National Commission for Justice and Peace Pakistan (Nationale Kommission für Gerechtigkeit und Frieden Pakistan) entwickelt derzeit ein Programm zum Schutz von Mädchen und jungen Frauen aus Minderheitengemeinschaften in Pakistan. Die Kommission empfiehlt unter anderem eine Polizeireform und Polizeischulungen, die Einrichtung von Beratungsstellen, die Überarbeitung des Gesetzes zur Bekämpfung von Zwangskonversionen, das 2021 von einem Parlamentsausschuss abgelehnt wurde, und die Aufnahme des Begriffs „Zwangskonversion“ in den nationalen Rechtsrahmen, um die Gesetzgebung zu erleichtern.
Vorfälle und Entwicklungen
Der Berichtszeitraum war in Pakistan durch eine tiefe wirtschaftliche und politische Krise geprägt, die letztlich mit zur Absetzung von Imran Khan am 10. April 2022 beitrug. Khan, der seit dem 18. August 2018 im Amt war, ist der erste Premierminister Pakistans, der durch ein Misstrauensvotum des Parlaments abgesetzt wurde.
Einige Minderheiten, insbesondere Christen, haben mit anwaltlichem Beistand begonnen, Vereinigungen zur Verteidigung ihrer Rechte zu gründen, wie z. B. die Minorities' Alliance of Pakistan (Minderheitenallianz Pakistan) von Akmal Bhatti, die Kundgebungen und Appelle an Gerichte und lokale Gesetzgeber organisiert, um einen gleichberechtigten Zugang zur Justiz zu erreichen.
Obwohl Khan in seinem Wahlprogramm ein neues Pakistan („Naya Pakistan“) versprochen hatte, in dem die „bürgerlichen, sozialen und religiösen Rechte von Minderheiten“ garantiert werden, wurden religiöse Minderheiten weiterhin stark diskriminiert. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass öffentliche Stellenausschreibungen für Reinigungskräfte, Straßenkehrer und Kanalreiniger den Hinweis „reserviert für Nicht-Muslime“ enthalten.
Die Diskriminierung von Minderheiten nimmt verschiedene Formen an. So wurden beispielsweise bei Plänen zur Eindämmung der Überschwemmungsgefahr christliche und hinduistische Gemeinschaften nicht berücksichtigt. Nach dem Verlust ihrer Häuser beschwerten diese sich über Verzögerungen oder Versäumnisse bei der Entschädigung durch die Regierung.
Die starke Präsenz islamistischer Terrorgruppen war im Berichtszeitraum ein weiteres Problem, von dem vor allem Minderheitengruppen betroffen waren. Pakistan bleibt laut Globalem Terrorismus-Index (GTI) unter den zehn am stärksten vom Terrorismus betroffenen Ländern, fiel im Jahr 2020 allerdings von Platz acht auf Platz zehn, wobei die Zahl der terrorismusbedingten Todesfälle leicht anstieg (5 %).
Mit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan im August 2021 nahmen auch die terroristischen Aktivitäten in Pakistan wieder zu. Hier konnte der DAESH-Ableger „Islamischer Staat Khorasan“ (IS-KP) an Boden gewinnen. Zum ursprünglichen Kern dieser Gruppe in Afghanistan gehörten viele ehemalige pakistanische Taliban-Kämpfer, die mit ihrer Führung unzufrieden waren. DAESH-Khorasan ist für den Anschlag auf eine schiitische Moschee in Peschawar im März 2022 verantwortlich, der mehr als 60 Menschenleben forderte.
Die schiitische Gemeinschaft Pakistans betrachtet diesen Selbstmordanschlag vom 4. März 2022 als letzten in einer ganzen Reihe von Angriffen, die sich seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021 mit Unterstützung der pakistanischen Regierung ereigneten.
Die Gewalt gegen Schiiten hat seit Beginn der Islamisierung des Landes in den 1980er Jahren zugenommen, wobei sich die Situation in den letzten Jahren noch verschlimmert hat. Ein Vorfall im Berichtszeitraum ereignete sich am 18. September 2022, als radikale islamistische Aktivisten eine schiitische Prozession in der Provinz Punjab angriffen und mindestens 13 Menschen verletzten. Einem ranghohen Polizeibeamten zufolge war es wegen einer Prozessionsroute zu Spannungen zwischen der extremistisch-islamistischen Partei Tehreek-i-Labbaik Pakistan (TLP) und schiitischen Aktivisten gekommen: Die örtlichen TLP-Führer wollten nicht, dass die schiitische Prozession vor ihrer Moschee und ihrem Seminar vorbeizieht.
Nach Angaben des Centre for Social Justice (Zentrum für soziale Gerechtigkeit) sind die meisten der Blasphemie beschuldigten Personen Schiiten. Im Jahr 2020 belief ihre Zahl sich auf 140 von 208 Fällen insgesamt (bzw. 70 %).
Am 13. Juli 2021 äußerten UN-Experten ihre tiefe Besorgnis über das mangelnde Interesse an den Menschenrechtsverletzungen, die die Ahmadiyya-Gemeinschaft weltweit und auch in Pakistan erdulden muss. Ahmadiyya-Muslime in Pakistan sind nach wie vor einer strengen staatlichen und gesellschaftlichen Verfolgung ausgesetzt.
Im Jahr 2021 wurden mindestens drei Ahmadis bei verschiedenen gezielten Angriffen getötet: Am 11. Februar 2021 wurde der 65-jährige Arzt für Homöopathie, Abdul Qadir, in seiner Klinik in Peshawar erschossen. Am 9. November 2021 erschossen Unbekannte den 40-jährigen Kamran Ahmad, ebenfalls in Peschawar. Nur wenig später, am 20. November 2021, wurde der 31-jährige Tahir Ahmet nach dem Freitagsgebet in Punjab erschossen. Im August 2022 wurde der 33-jährige dreifache Familienvater Abdul Salam auf dem Heimweg von der Feldarbeit mit einem Messer angegriffen. Täter war ein Seminarschüler namens Hafiz Ali Raza, alias Mulazim Husain.
Die Ahmadiyya-Gemeinde meldete der Polizei 49 religiös motivierte Vorfälle sowie die Schändung von 121 Ahmadiyya-Gräbern und 15 Gebetsstätten durch aufgebrachte Mobs.
Angriffe auf hinduistische Kultstätten sind ebenfalls sehr häufig. So drangen am Abend des 8. Juni 2022 fünf Männer auf Motorrädern in den Hindu-Schrein im Stadtbezirk Korangi in Karatschi ein, zerschlugen Opferschalen, warfen Steine auf ein Kultbild und bedrohten zwei Mitarbeiter des Tempels.
Noch schlimmer war ein Anschlag, der am 4. August 2021 auf den Ganesh-Tempel in Bhong, einem Dorf im Punjab, verübt wurde. Dabei beschädigte ein Mob von etwa 250 Personen den Tempel schwer. Auslöser für den Angriff war die Freilassung eines Hindu-Jungen auf Kaution gewesen, dem die Schändung einer örtlichen Medresse vorgeworfen wurde. Der Mob verwüstete nicht nur den Tempel; auch die meisten Hindu-Familien des Dorfes waren gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen.
Blasphemievorwürfe sind oft die Ursache für Angriffe auf Minderheiten, noch bevor die Polizei eingreifen kann. Ein solcher Vorfall ereignete sich am 7. August 2021 in Lahore, nachdem sich ein in der NCP-Kirche abgehaltenes Jugendseminar dem Vorwurf der Gotteslästerung ausgesetzt sah. Die Vorwürfe riefen einen großen muslimischen Mob auf den Plan, der zur Kirche marschierte und christenfeindliche Parolen skandierte. Hunderte christliche Familien flohen vor dem Mob aus ihren Häusern. Durch das rechtzeitige Eingreifen der Polizei konnte die Kirche gerettet und ein möglicher Angriff auf die Häuser der Menschen abgewendet werden.
Am 9. November 2021 wurden die Christin Yasmeen Bibi, 55, und ihr Sohn Usman Masih, 25, von ihrem muslimischen Nachbarn Hassan Shakoor Butt getötet. Vorausgegangen war eine längerer Streit über das Abwasser aus dem Haus der Christen, das in der Nähe eines muslimischen Heiligtums vorbeifließt. Der Mörder und seine an der Tat beteiligte Mutter hatten die Opfer zunächst als „Kaffir“ (arabisch abwertend für Ungläubige) und „Chura“ (etwa „schmutzige Christen“, eine abwertende Bezeichnung, die im südasiatischen Kastensystem für Dalits oder Unberührbare angewendet wird) beschimpft.
Am 30. Januar 2022 wurde Pater William Siraj in Peschawar ermordet, nachdem er die Allerheiligenkirche nach dem Sonntagsgebet verlassen hatte.
Christliche Krankenschwestern machen etwa 60 bis 70 % des pakistanischen Pflegepersonals aus. Auch sie waren in zwei verschiedenen Vorfällen von Gewalt betroffen. Am 30. Januar 2021 wurde Tabitha Nazir Gill, eine bekannte evangelikale christliche Sängerin, die als Krankenschwester in Karatschi arbeitete, von Kollegen der Blasphemie beschuldigt. Gill wurde vom Krankenhauspersonal und von Besuchern geschlagen und gequält, bis Polizeibeamte eintrafen und sie in Gewahrsam nahmen. Die Beamten ließen Tabitha Gill zunächst frei, ohne Anklage zu erheben, beugten sich aber später dem Druck des Mobs und nahmen Anzeige gegen sie auf. Am 9. April 2021 wurden zwei christliche Krankenschwestern im Zivilkrankenhaus von Faisalabad von Polizisten vor einem wütenden Mob gerettet, nachdem ein Arzt sie beschuldigt hatte, einen islamischen Aufkleber von einem Schrank gekratzt zu haben.
Am 29. März 2022 wurde die Lehrerin Safoora Bibi von drei Seminarschülerinnen ermordet, nachdem Behauptungen aufgekommen waren, sie habe den Propheten Mohammed beleidigt.
Das wohl abscheulichste Verbrechen im Zusammenhang mit Blasphemie war der Mord an Priyantha Kumara Diyawadana. Der srilankische Manager wurde am 3. Dezember 2021 in Sialkot ermordet. Extremisten hatten ihm vorgeworfen, Plakate mit Koranversen heruntergerissen zu haben. Anderen Berichten zufolge hatte er lediglich Plakate der TLP von den Wänden seiner Fabrik entfernt. Auf Videos, die im Internet kursieren, ist zu sehen, wie eine Menschenmenge auf den am Boden liegenden Mann einprügelt, während TLP-Parolen gegen Blasphemie zu hören sind. Die Leiche wurde später in Brand gesteckt; einige Täter fotografierten sich mit der brennenden Leiche. Der pakistanische Premierminister Imran Khan verurteilte die Tat. Auf Twitter schrieb er: „Das ist ein Tag der Schande für Pakistan. Ich beaufsichtige die Ermittlungen. Damit kein Missverständnis entsteht: Alle Verantwortlichen werden mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft. Verhaftungen sind im Gange.“
Außergerichtliche Hinrichtungen kommen in Pakistan weiterhin vor, und im Hinblick auf Fälle von Blasphemie waren im Berichtszeitraum kaum Verbesserungen zu beobachten. Eine Ausnahme bildet die Freilassung eines christlichen Paares, das 2014 wegen Blasphemie zum Tode verurteilt worden war: Nachdem Shafqat Masih und seine Frau Shagufta Kousar beschuldigt worden waren, den Propheten Mohammed in Textnachrichten beleidigt zu haben, hatten sie sieben Jahre lang in der Todeszelle gesessen. Am 3. Juni 2021 sprach ein Gericht die beiden aus Mangel an Beweisen frei. Trotz der offenbar dürftigen Beweislage hatte es mehrere Jahre gedauert, bis das Paar seine Unschuld beweisen konnte.
Der Fall von Pastor Zafar Bhatti ist anders gelagert. Er war am 22. Juli 2012 inhaftiert und ebenfalls beschuldigt worden, blasphemische Textnachrichten von seinem Telefon aus verschickt zu haben. Inzwischen ist Bhatti, der stets seine Unschuld beteuerte, die am längsten wegen Blasphemievorwürfen in Haft lebende Person in Pakistan. Im Januar 2022 wurde sein Urteil auf lebenslange Haft vollkommen unerwartet und nicht nachvollziehbar in ein Todesurteil umgewandelt.
Ebenfalls im Januar 2022 verurteilte ein pakistanisches Gericht die Muslimin Aneeqa Atteeq zum Tode. Sie war im Mai 2020 verhaftet worden, nachdem ein Mann die Polizei alarmiert hatte, dass sie ihm über WhatsApp Karikaturen des Propheten geschickt hatte, die als Gotteslästerung gelten.
Die jüngste Person, die jemals in Pakistan wegen Blasphemie angeklagt wurde, ist ein achtjähriger Hindu. Er war im August 2021 beschuldigt worden, in der Bibliothek einer islamischen Schule (Medresse), in der religiöse Bücher aufbewahrt wurden, absichtlich auf einen Teppich uriniert zu haben. Wegen der Anschuldigungen sah sich die örtliche Hindu-Gemeinde zur Flucht gezwungen. Zudem kam es zu einem Angriff auf einen Hindu-Tempel.
Die Zahl der Fälle, in denen christliche und hinduistische Mädchen entführt und sexuell versklavt wurden – unter dem Vorwand, sie zum Islam zu bekehren und mit ihren Entführern zu verheiraten – nahm im Berichtszeitraum weiter zu.
Aus der Vielzahl der Fälle betroffener christlicher Mädchen sticht der von Mahnoor Ashraf besonders hervor. Die damals 14-Jährige wurde am 4. Januar 2022 von Muhammad Ali Khan Ghauri entführt, einem 45-jährigen Muslim, der bereits verheiratet ist und zwei Kinder hat. Mahnoors Vater meldete den Vorfall der Polizei, die Beamten unternahmen jedoch wenig oder gar nichts, um den Fall aufzuklären. Am 7. Januar gab der Entführer Ghauri an, dass Mahnoor freiwillig zum Islam übergetreten sei und ihn noch am Tag der Entführung geheiratet habe.
Ein anderer, scheinbar erfolgreich gelöster Fall, zeigt die Grenzen der pakistanischen Strafverfolgung auf: Im April 2022 wurde die 16-jährige pakistanische Katholikin Meerab Mohsin Opfer von Vergewaltigung, Zwangsverheiratung und -konversion. Obwohl es ihr gelang, ihrem Entführer, einem muslimischen Mann, zu entkommen und zu ihrer Familie zurückzukehren, erklärte das Gericht die Ehe nicht für ungültig. Die Anwältin des Mädchens, Tabassum Yousaf, erklärte gegenüber Kirche in Not, die Eltern seien „sehr besorgt über die zweideutige Entscheidung des Gerichts. Da das Gericht die Ehe nicht annulliert hat, könnte das Urteil jederzeit anders interpretiert werden und die Familie gezwungen sein, ihre Tochter an ihren Ehemann zurückzugeben.“
Auch die Gemeinschaft der Hindu ist stark von Entführungen und Zwangskonversionen betroffen: Am 24. September 2022 wurde die 14-jährige Hindu Chandra Mehraj in der Stadt Hyderabad in der pakistanischen Provinz Sindh entführt. Nach Angaben der Eltern war das Mädchen auf dem Weg nach Hause im Stadtteil Fateh Chowk gewesen. Es war die vierte Entführung und Zwangskonvertierung eines Hindu-Mädchens innerhalb von nur 15 Tagen.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Das Leben ist für Minderheiten in Pakistan nach wie vor schwierig. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise und der politischen Instabilität des Landes ist in nächster Zeit nicht mit einer Verbesserung zu rechnen. Die Machtübernahme durch die Taliban im benachbarten Afghanistan könnte überdies zu einer Zunahme des islamischen Fundamentalismus beitragen.
Im pakistanischen Rechtsrahmen fehlen noch immer Gesetze zum Schutz von Minderheiten und zur Verhinderung von Zwangskonversionen. Dennoch haben sich einige Gruppen gebildet, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen und denen es gelungen ist, über nationale und transnationale Kanäle einen gewissen Einfluss auf die internationale öffentliche Meinung zu üben.
Die besorgniserregendste Entwicklung ist aber zweifellos die zunehmende islamische Prägung der Schulbildung. Sie trägt von der Grundschule an zu Diskriminierung und negativen Einstellungen gegenüber religiösen Minderheiten bei. Die Einführung eines einheitlichen nationalen Lehrplans hat diese Situation noch verschärft. Die Aussichten für die Religionsfreiheit bleiben negativ.