Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Die Bundesrepublik Nigeria ist mit mehr als 200 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas, die größte Volkswirtschaft des Kontinents und eines der führenden Ölförderländer. Sie hat die Regierungsform einer parlamentarischen Demokratie. Das Land ist in 36 Bundesstaaten und ein Federal Capital Territory, das Territorium der Hauptstadt Abuja, gegliedert.
Die 1999 in Kraft getretene Verfassung untersagt es der Bundesrepublik sowie den einzelnen Bundesstaaten, eine Staatsreligion festzulegen (Artikel 10), und zählt religiöse Toleranz zu den Grundsätzen der Staatspolitik (Artikel 23). Laut Artikel 15, Absatz 2 der Verfassung darf niemand wegen seines Glaubens diskriminiert werden. Gemäß Artikel 42, Absatz 1 ist jeder unabhängig von seiner Religion vor dem Gesetz gleich. Artikel 222.b verlangt, dass politische Parteien für alle Bürger Nigerias offen sind, unabhängig davon, welchen Glauben sie haben. Darüber hinaus ist es Parteien untersagt, Namen, Symbole oder Logos mit religiösem Bezug zu verwenden (Artikel 222.e).
Des Weiteren gewährleistet Artikel 38, Absatz 1 der Verfassung das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Das schließt auch die Freiheit ein, die Religion oder den Glauben zu wechseln und entweder alleine oder mit anderen durch Gottesdienste, Religionsunterricht und das Befolgen religiöser Regeln den Glauben öffentlich oder privat zu bekennen und zu verkünden. Artikel 38, Absatz 2 sieht vor, dass niemand gegen seinen Willen zur Teilnahme am Religionsunterricht gezwungen werden darf, wenn der Unterricht nicht mit der eigenen Überzeugung im Einklang steht. Das gleiche gilt auch für religiöse Feiern und das Befolgen religiöser Regeln. Laut Artikel 38, Absatz 3 dürfen Glaubensgemeinschaften oder Konfessionen in den von ihnen selbst betriebenen Ausbildungsstätten den Anhängern ihrer jeweiligen Glaubensrichtung Religionsunterricht erteilen. Die gemäß Artikel 38 gewährten Rechte berechtigen laut Absatz 4 nicht dazu, geheime Gesellschaften zu gründen, diesen beizutreten oder an deren Aktivitäten teilzunehmen.
Zur Förderung der sozialen Integration ist der Staat laut Artikel 15, Absatz 3, Buchstabe c und d verpflichtet, interreligiöse Eheschließungen zu unterstützen und die Gründung von Vereinen zu fördern, die Mitglieder unterschiedlichen Glaubens aufnehmen. In den Bundesstaaten Kano, Borno, Niger, Katsina und Kaduna ist gesetzlich vorgeschrieben, dass Geistliche eine staatliche Zulassung benötigen, um predigen zu dürfen. Die Nigerianer sind insgesamt sehr religiös. In einer Umfrage gaben 93 % der Befragten an, dass Religion in ihrem Leben sehr wichtig sei.
Nigeria hat ein komplexes Rechtssystem, das sich auf vier verschiedene Rechtsquellen beruft, nämlich angelsächsisches Recht, Common Law, Gewohnheitsrecht und in mehreren Bundesstaaten islamisches Recht (Scharia). Laut Artikel 275, Absatz 1 der nigerianischen Verfassung ist jeder Bundesstaat berechtigt, ein Scharia-Berufungsgericht einzusetzen. Für das Federal Capital Territory in Abuja ist gemäß Artikel 260, Absatz 1 ein Scharia-Berufungsgericht vorgesehen. Als die Scharia vor mehr als 20 Jahren in zwölf nördlichen Bundesstaaten eingeführt wurde, waren viele Muslime begeistert, während die Christen die Maßnahme ablehnten. Es kam zu Ausschreitungen, bei denen mehrere tausend Menschen – Christen und Muslime – ihr Leben verloren. „Die meisten Muslime im Norden Nigerias vertreten immer noch die Ansichten des alten Kalifats (1804–1903)“, schreibt Bischof Mathew Hassan Kukah, „welches das Christentum als eine fremde Religion betrachtete und es mit dem Kolonialismus in Verbindung brachte.“
Mehr als 20 Jahre nach Einführung der Scharia hat sich die Lage im Norden Nigerias weiter verschlechtert, weil ethnische Herkunft und Religion bei der Verteilung von politischer Macht, Ressourcen und Privilegien eine große Rolle spielen. In den meisten Bundesstaaten des Nordens ist das Blasphemieverbot sowohl in der Scharia als auch im Strafgesetzbuch verankert. An staatlichen Schulen wird kein christlicher Religionsunterricht erteilt. Christliche Studierende haben keinen Zugang zu staatlichen Stipendien, und christliche Hochschulabsolventen werden auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Für Kirchen werden keine Baugenehmigungen erteilt. Christliche Kult- und Gebetsstätten werden entschädigungslos widerrechtlich zerstört. Im Südwesten des Landes, in dem ein bedeutender Anteil der Bevölkerung muslimischen Glaubens ist, gab es bislang keine nennenswerten religiös motivierten Gewalttaten. Die Beziehungen zwischen den Religionen sind dort von Respekt geprägt.
Die von Schariagerichten verhängten Todesurteile und Strafen wie Verstümmelung oder Schläge sind grausam, unmenschlich und erniedrigend und verstoßen gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes. Die Religionspolizei „Hisba“ geht darüber hinaus gegen moralische und religiöse Verfehlungen vor, zum Beispiel durch Beschlagnahme und Vernichtung von Bierflaschen, Schließung von Shisha-Läden, Durchsuchung von Hotels, Verbot modischer Haarschnitte, Durchsetzung des Essensverbots in der Öffentlichkeit im Ramadan (sogar in nicht muslimischen Gebieten), Auflösung unsittlicher Versammlungen und Festnahme von Personen, die gegen die Scharia verstoßen. In den Bundesstaaten Kano, Zamfara und Sokoto hat die Hisba Behördencharakter, obwohl Artikel 214, Absatz 1 der Verfassung besagt, dass die Bundesrepublik und die Bundesstaaten keine anderen Polizeibehörden als die „Nigerianische Polizei“ einsetzen dürfen.
Die Christen im Land fragen sich seit Langem, warum Nigeria als Land, das keine Staatsreligion hat und dessen Einwohner zu annähernd 50 % Christen sind, seit 1986 Vollmitglied der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) ist, die unter anderem das Ziel verfolgt, die „Symbole des Islams und das gemeinsame Erbe zu schützen“, den „universellen Charakter des Islams zu verteidigen“ und die „Vorreiterrolle des Islams in der Welt wiederzubeleben“. Auch die Entscheidung der Bundesregierung unter Präsident Buhari, die Beziehungen mit dem Iran zu stärken, wurde kontrovers diskutiert.
Diskriminierung von Nichtmuslimen
Im überwiegend muslimischen Norden, wo die Scharia angewendet wird, werden Nichtmuslime systematisch diskriminiert: Sie unterliegen dem Blasphemieverbot der Scharia und werden von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen; Frauen werden entführt und mit muslimischen Männern zwangsverheiratet; Nichtmuslime erhalten keine Baugenehmigungen für Kirchen oder Kapellen; alle Schülerinnen an weiterführenden Schulen sind verpflichtet, den Hidschab zu tragen.
Die verstärkte Durchsetzung des Blasphemieverbots, das im nigerianischen Strafrecht und in der Scharia festgeschrieben ist, bewertet die US Commission on International Religious Freedom (USCIRF) als eine „erhebliche Gefährdung der Religionsfreiheit der Nigerianer, insbesondere der religiösen Minderheiten und der Anhänger von missliebigen oder abweichenden Glaubensrichtungen“. Der islamische Geistliche Sheikh Abduljabar Nasir Kabara wurde von einem Schariagericht in Kano wegen Blasphemie zum Tode verurteilt. Gegen das Urteil werden voraussichtlich Rechtsmittel eingelegt. Der dem Sufismus anhängende Musiker Yahaya Sharif-Aminu wurde 2020 zum Tode verurteilt, weil er angeblich blasphemische Liedtexte in WhatsApp gepostet haben soll. Nachdem sein Berufungsantrag im August 2022 zurückgewiesen worden war, lässt er nun vom Obersten Gerichtshof von Nigeria die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Rechtsvorschriften prüfen.
Genauso besorgniserregend wie die strafrechtliche Verfolgung sind das Rachedenken innerhalb der Gesellschaft und das brutale Vorgehen gegen angebliche Blasphemiefälle. Am 12. Mai 2022 wurde die 22-jährige Christin Deborah Samuel Yakubu, die im Bundesstaat Sokoto am Shehu Shagari College of Education studierte, wegen angeblicher blasphemischer Äußerungen von muslimischen Mitstudenten schikaniert und brutal ermordet.
Im Juni 2021 forderten die katholischen Bischöfe in Nigeria eine Reform der Verfassung von 1999, die ihrer Ansicht nach die Muslime bevorzugt, „Christen und Anhänger anderer Glaubensrichtungen benachteiligt“ und daher „für die Einheit und die Weiterentwicklung des Landes nicht förderlich ist“. In der Verfassung von 1999 wurde die Einrichtung von Schariagerichten für Muslime vorgesehen. Die unterschiedlichen Rechtssysteme und Zuständigkeiten führen dazu, dass die Bürger Nigerias keinem einheitlichen Recht unterliegen.
Nach Auffassung vieler praktizierender Juristen und Akademiker widersprechen die Scharia und die Schariagerichte dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Trennung von Staat und Religion. Dementgegen befand ein Gericht im Bundesstaat Kano am 17. August 2022 erstmals, dass „die Anwendung der Scharia verfassungskonform … [und] der Versuch der Beschwerdeführer, die Unrechtmäßigkeit der Scharia nachzuweisen, daher unbegründet ist“. Zwei Monate zuvor, am 17. Juni, hatte der Oberste Gerichtshof von Nigeria bestätigt, dass Schülerinnen an öffentlichen Schulen des Bundesstaats Lagos den Hidschab tragen dürfen, und damit das vom Bundesstaat verhängte Verbot aufgehoben.
In zwölf nördlichen Bundesstaaten Nigerias gibt es bereits Schariagerichte, und der Druck wächst, weitere zu errichten. Die Organisation Muslim Rights Concern (MURIC) sprach sich zum Beispiel für die Einführung der Scharia im Südwesten des Landes aus. Die muslimische Gemeinschaft im südlich gelegenen Bundesstaat Osun forderte den Gouverneur auf, Schariagerichte als Bestandteil des bundesstaatlichen Gerichtssystems anzuerkennen. Der oberste Geistliche der Gemeinschaft gab in diesem Zusammenhang bekannt, dass bereits ein Schariagericht errichtet wurde. Des Weiteren sprach sich die muslimische Jugendorganisation National Council of Muslim Youth Organisations für die Errichtung eines Scharia-Berufungsgerichts im Bundesstaat Lagos aus und forderte, Artikel 275, Absatz 1 der Verfassung dahingehend abzuändern, dass alle nigerianischen Bundesstaaten, in denen mindestens 100 Muslime leben, verpflichtet werden, Schariagerichte zu errichten. Der muslimische Juristenverband Muslim Lawyers Association of Nigeria (MULAN) ging noch weiter und verlangte die Errichtung von Schariagerichten im gesamten südlichen, mehrheitlich christlichen Teil des Landes, um die Interessen der Muslime im Süden zu berücksichtigen.
Gewalt und Terroranschläge
Laut Global Terrorism Index (GTI) liegt Nigeria unter den Ländern mit dem größten Ausmaß an Terrorismus auf Platz 6. Neben den Auseinandersetzungen mit der Separatistengruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) erschüttern kriminelle Banden und innerislamische Konflikte zwischen Schiiten, der Izala-Bewegung, Boko Haram, dem IS-Ableger Islamic State West Africa Province (ISWAP) und anderen Gruppen das Land. Darüber hinaus kommt es häufig zu religiös motivierten Terroranschlägen, zumeist gegen Christen, aber auch gegen Muslime und Anhänger traditioneller Glaubensrichtungen. Im Jahr 2016 zerfiel die salafistische Terrorgruppe Boko Haram, die für die Errichtung eines Kalifats und für eine strenge Auslegung der Scharia in ganz Nigeria kämpft, in zwei Gruppen: Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’adati wal-Jihad (JAS) und ISWAP. Eine dritte Splittergruppe (Ansaru al-Musulmina fi Bilad al-Sudan, kurz Ansaru) verstärkte ihre Aktivitäten vor allem im Nordwesten und im Zentrum Nigerias. Boko Haram und ISWAP sind vor allem in den nordöstlichen Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa und im geringeren Umfang in den Bundesstaaten Gombe, Kano, Kaduna, Plateau, Bauchi und Taraba aktiv. Die Auslegung der Scharia nach den Grundsätzen der ISWAP führt dazu, dass grausame Strafen verhängt werden, wie Handamputationen wegen Diebstahls und die Todesstrafe für Ehebrecher oder Bürger, die ihre Steuern nicht zahlen oder Anordnungen missachten. Ziel der Gruppe ist insbesondere die christliche Minderheit im Nordosten Nigerias, wohl zum Teil auch, um ihre Treue zur Terrororganisation ISIS unter Beweis zu stellen. Laut einem Bericht vom Juni 2021 schätzt das UNDP Nigeria, dass der Konflikt im Nordosten des Landes bis Ende 2020 annähernd 350 000 Tote, 314 000 davon durch unmittelbare Folgen, gefordert hat. 52 % der Menschen im Nordosten und 49 % im Nordwesten Nigerias führen die bestehenden Konflikte auf religiöse Unterschiede zurück.
In einigen Gebieten wie im Bundesstaat Kaduna unterwandern Terroristen die Städte und Dörfer und bilden „Parallelregierungen“, die das soziale Leben, die Wirtschaft und die Justiz kontrollieren. Die Bundesregierung hat diesen Aktivitäten offenbar nichts entgegenzusetzen. Der katholische Erzbischof von Abuja, Ignatius Ayau Kaigama, wies außerdem auf die ungerechte Verteilung von Finanzmitteln durch die Bundesregierung hin, die Christen benachteiligt und unterschwellig schikaniert.
Zwar fallen auch Muslime der im Land herrschenden Gewalt zum Opfer, aber mehrheitlich sind Christen davon betroffen. In ihrem Bericht zur Gewalt in Nigeria (2019–2022) kam die Beobachtungsstelle für Religionsfreiheit in Afrika zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis von getöteten Christen und Muslimen 7,6 zu 1 beträgt. Nach Angaben des ACLED nahmen die Angriffe auf Zivilisten 2021 im gesamten Land gegenüber dem Vorjahr um 28 % zu; diese Entwicklung setzte sich 2022 fort. Die Gesamtzahlen sind erschütternd. Einem Bericht der nigerianischen NGO Intersociety vom August 2021 zufolge wurden im Zeitraum von zwölf Jahren 43 000 Christen von nigerianischen Dschihadisten getötet, 18 500 verschwanden dauerhaft, 17 500 Kirchen und 2000 christliche Schulen wurden zerstört, 10 Millionen Menschen wurden im Norden vertrieben. Im Nordwesten und im zentralen Norden des Landes stieg die monatliche Durchschnittszahl der gegen Christen gerichteten Anschläge zwischen 2020 und Juni 2022 um 50 %. Das „Nigerian Atrocities Documentation Project“ des Kukah Centre in Abuja verzeichnete in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 annähernd 200 Anschläge auf christliche Gemeinden im Norden Nigerias. Dabei starben Hunderte Christen, und Tausende wurden vertrieben, ohne dass Polizei- oder Militärkräfte wirksam durchgriffen.
Häufig sind Geistliche das Ziel der Gewalt. Seit 2012 wurden 39 katholische Priester getötet und 30 entführt. Zudem wurden 17 Katecheten ermordet. Im Mai 2022 veröffentlichte die Terrororganisation IS ein Video, auf dem die Hinrichtung von 20 nigerianischen Christen zu sehen war. Sie galt als Vergeltungsmaßnahme für die Tötung von IS-Anführern im Nahen Osten. Im selben Monat überfielen ISWAP-Kämpfer die Stadt Rann im Bundesstaat Borno und töteten mindestens 45 Landarbeiter, die sich bei der Ernte befanden.
Einer der blutigsten Anschläge der vergangenen Jahre wurde aber am 5. Juni 2022 von Unbekannten verübt, die am Pfingstmontag in der Stadt Owo im Südwesten Nigerias die katholische Kirche St. Franz Xaver beschossen und mehr als 50 Menschen töteten, darunter Frauen und Kinder.
Am 31. Juli 2022 töteten Fulani-Extremisten acht Christen im Bundesstaat Plateau. Im September 2022 stürmten in der Stadt Kasuwan Magani im Bundesstaat Kaduna extremistische Fulani-Hirten während der Vigil die Cherubim-und-Seraphim-Kirche, entführten mehr als 45 Menschen und verlangten umgerechnet 400.000 Euro Lösegeld. Am 19. Oktober 2022 töteten mutmaßlich Fulani-Hirten 36 Bewohner des Dorfes Gbeji im Bundesstaat Benue. Am 23. November 2022 überfielen militante Fulani-Hirten ein Dorf im Bundesstaat Enugu und töteten 10 Menschen. Mehrere Menschen wurden verletzt und ihre Häuser zerstört. Bei zwei weiteren barbarischen Angriffen im Dezember 2022 kamen mindestens 46 Dorfbewohner im Norden des Bundesstaates Kaduna ums Leben. Die Täter waren mutmaßlich militante Fulani-Hirten. Mindestens 100 Häuser wurden niedergebrannt, einige Opfer starben in den Flammen. Führende Kirchenvertreter erklärten, dass international von den Gräueltaten kaum Notiz genommen wird, obwohl nahezu täglich in den nigerianischen Medien von Angriffen auf christliche Dörfer und Kirchen sowie auf Priester, Ordensleute, Seelsorger, Seminaristen und Gläubige berichtet wird. Der katholische Bischof Wilfred Anagbe aus der Diözese Makurdi im Bundesstaat Benue spricht von einem „schleichenden Genozid“ an Christen, der das Ziel hat, „alle mehrheitlich von Christen bewohnten Regionen zu islamisieren“.
In der Region Middle Belt bestehen seit jeher Konflikte zwischen nomadisch lebenden, muslimischen Fulani-Hirten und sesshaften, christlichen Bauern, die anderen Volksgruppen angehören. Die Gewalt hat komplexe Ursachen. Vorrangig geht es um die Verteilung der Ressourcen wie Boden und Wasser, darüber hinaus aber auch um ethnische, politische und religiöse Aspekte.
Aus der toxischen Gemengelage gingen Fulani-Extremisten hervor, die unter den 12 bis 16 Millionen ethnischen Fulani in Nigeria eine kleine Minderheit bilden. Sie bekennen sich zu einer islamistischen Ideologie und werden von nationalen und internationalen kriminellen Dschihadistengruppen rekrutiert. Laut einer Studie von KIRCHE IN NOT stammen viele der Fulani-Terroristen offenbar aus den Nachbarländern. Unter dem Vorwand des Kampfes um Ressourcen töten, verbrennen und verstümmeln islamistische Fulani Nigerianer entlang ethnischer und religiöser Linien. Ihre Angriffe richten sich gegen Kirchen, Geistliche und Feiern sowie gegen Muslime, die sich der fundamentalistischen Agenda nicht anschließen. Schätzungsweise 13 000 bis 19 000 Menschen wurden seit 2009 von Fulani-Extremisten ermordet. Unzählige weitere erlitten folgenschwere Verletzungen.
Die Beobachtungsstelle für Religionsfreiheit in Afrika (ORFA) berichtet: „Die Mehrheit der Angriffe mit den höchsten Todeszahlen finden in Nigeria in der landwirtschaftlichen Saison statt. Zu Entführungen kommt es das ganze Jahr über. Angriffe während der landwirtschaftlichen Saison haben schwerwiegendere Folgen für das Leben der Menschen als in anderen Jahreszeiten. Diese Erkenntnis nährt den Verdacht, dass die Angreifer ihre Opfer, vor allem die Christen im Norden, gezielt töten oder ihnen die Lebensgrundlagen entziehen. Einige bezeichnen dies als ‚Völkermord durch Zermürbung‘.“
Ungeachtet der eindeutigen Faktenlage werden die islamistischen Motive des Fulani-Terrors immer noch in einigen Kommentaren heruntergespielt. In einer Erklärung zum Massaker in der katholischen Kirche St. Franz Xaver in Owo am 5. Juni 2022 führte beispielsweise der Präsident der Republik Irland, Michael D. Higgins, die Gräueltat auf die „Folgen des Klimawandels“ zurück, unter denen die Hirtenvölker leiden. Der Bischof von Ondo, Jude Ayodeji Arogundade, reagierte Tage später auf die Erklärung des Präsidenten mit den Worten: „Die von ihm angeführten Erklärungen für dieses grauenhafte Massaker sind unzutreffend und weit hergeholt.“
Wer die religiöse Dimension des Terrors vernachlässigt, verwischt die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, verharmlost den kriminellen Charakter der Angriffe und verhindert durch die Fehldiagnose eine Lösung des Problems. Die Co-Vorsitzende des Ausschusses für Internationale Religionsfreiheit im britischen Parlament, Baroness Cox, äußerte dazu: „Der Gewalt liegen komplexe Ursachen zugrunde. Es ist aber eine eklatante Asymmetrie der Kräfteverhältnisse zwischen den gut ausgerüsteten Fulani-Milizen und den überwiegend christlichen Gemeinschaften und eine massive Eskalation der Angriffe festzustellen. Solche Gräueltaten lassen sich nicht einfach nur auf Wüstenbildung, Klimawandel und Ressourcenknappheit zurückführen, wie die [britische] Regierung behauptet.“
Als Reaktion auf die zunehmende Gewalt erließen mehrere Bundesstaaten Nigerias – zuerst die vier Middle-Belt-Staaten Ekiti, Edo, Benue und Taraba im Jahr 2016 – Gesetze zum Verbot der freien Weidewirtschaft, um die Konflikte zwischen Hirten und sesshaften Bauern einzudämmen. Die Untätigkeit der Bundesregierung unter Präsident Muhammadu Buhari, der selbst wie viele andere Regierungsmitglieder muslimischer Fulani ist, wird indessen von großen Teilen der nigerianischen Bevölkerung zunehmend als stillschweigende Unterstützung der Fulani gewertet. Auch dem nigerianischen Militär wird vorgeworfen, bei Entführungen mit Fulani-Terroristen zusammenzuarbeiten. Die Regierung setzte 2022 Boko-Haram-Mitglieder auf freien Fuß und löste mit ihrer Ankündigung, weitere „reumütige“ Terroristen in großer Zahl freilassen zu wollen, soziale Unruhen aus. Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters zufolge soll das nigerianische Militär mindestens seit 2013 im Nordosten des Landes ein geheimes, systematisches und illegales Abtreibungsprogramm durchführen. Mindestens 10 000 Schwangerschaften seien schon bei Frauen und Mädchen beendet worden (...), von denen viele von Islamisten entführt und vergewaltigt worden waren.
Am 11. Dezember 2020 befand die Chefanklägerin beim Internationalen Strafgerichtshof, Fatou Bensouda, es bestehe Grund zu der Annahme, dass die Taten von Boko Haram und der nigerianischen Sicherheitskräfte den Tatbestand von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllen. Bis heute wurden jedoch keine Ermittlungen zur Untersuchung der weitgehenden und systematischen Straftaten eingeleitet, die Fulani-Dschihadistengruppen gegen christliche Gemeinschaften im Land verübt haben, obwohl das systematische Töten, die Vergewaltigungen, Entführungen, Angriffe auf religiöse Stätten und Geistliche sowie die Zerstörung von Lebensgrundlagen und Landbesetzungen von glaubwürdigen Quellen dokumentiert wurden. Wegen der weit verbreiteten Gewalt mussten unzählige Menschen, darunter viele Christen, im Laufe der Jahre ihre Heimat verlassen und flüchteten in andere Regionen des Landes oder ins Ausland. Der UNHCR verzeichnete im Nordosten des Landes (vor allem in den Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe) 2 197 824 und in der nordwestlichen und der zentralnördlichen Region 969 757 Binnenflüchtlinge. Darüber hinaus suchten 339 669 Nigerianer in Kamerun, Tschad und Niger Zuflucht.
US-Außenminister Antony Blinken gab am 17. November 2021 bekannt, dass Nigeria in Bezug auf die Religionsfreiheit von der Liste der besonders gefährdeten Länder (Countries of Particular Concern – CPC) gestrichen wurde, nachdem das Land unter seinem Amtsvorgänger Mike Pompeo im Dezember 2020 in die Liste aufgenommen worden war. Die US-Kommission für Internationale Religionsfreiheit (USCIRF) bezeichnete die Entscheidung als „unbegreiflich“ und warf dem US-Außenministerium vor, die Maßnahme sei völlig ungerechtfertigt, denn Nigeria würde eklatant gegen die Religionsfreiheit verstoßen. Die rechtlichen Anforderungen für die Einstufung als CPC seien eindeutig erfüllt. Der ehemalige US-Botschafter für Religionsfreiheit, Sam Brownback, bezeichnete die Streichung Nigerias aus der CPC-Liste als einen schweren Schlag für die Religionsfreiheit in Nigeria und in der gesamten Region. Nach Ansicht der führenden Vertreter der christlichen Kirchen in Nigeria schwächt die Entscheidung, Nigeria von der CPC-Liste zu streichen, die Glaubwürdigkeit der US-Regierung. Sie war einen Tag vor dem Besuch Blinkens in Nigeria veröffentlicht worden.
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023
Am 25. Februar 2023 wählten die Nigerianer einen neuen Präsidenten und Vizepräsidenten sowie die Mitglieder von Repräsentantenhaus und Senat. Die Regierungspartei All Progressives Congress (APC) nominierte neben dem muslimischen Präsidentschaftskandidaten Bola Tinubu einen Kandidaten für das Vizepräsidentenamt, der ebenfalls Muslim ist. Die christlichen Kirchen Nigerias äußerten die Sorge, dass der Bruch mit der gängigen Praxis, bei den Präsidentschaftswahlen einen muslimischen und einen christlichen Kandidaten aufzustellen, die sozialen Spannungen und den islamistischen Terror gegen Christen weiter anheizen werde und viele Christen zur Flucht gezwungen werden.
Präsident Muhammadu Buhari war nach fast achtjähriger Amtszeit nicht mehr zur Wahl angetreten. Er hinterlässt ein Land in Chaos und Unruhe, das mit einer katastrophalen Sicherheitslage, steigenden Lebenshaltungskosten und Nahrungsmittelknappheit zu kämpfen hat. Der künftige Präsident wird an mehreren Fronten für Sicherheit sorgen müssen: Boko Haram, ISWAP, islamistische Fulani-Gruppen, kriminelle Banden, aufständische Separatisten und militante „Öl-Aktivisten“. Eine der größten Herausforderungen wird es sein, die religiösen, ethnischen und regionalen Trennlinien im Land zu überwinden. Abgesehen davon leidet Nigeria unter der wohl schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Wiedereinführung der Demokratie im Jahr 1999, die sinkende Staatseinnahmen und eine untragbare Schuldenlast zur Folge hat. Laut einem Bericht des Africa Polling Institute stieg im Zeitraum von 2019 bis 2021 der Anteil der Einwohner, die bei sich bietender Gelegenheit Nigeria mit ihren Familien verlassen würden, von 32 auf 73 %.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Vor allem infolge von gesetzlichen Maßnahmen, die die Diskriminierung von Christen in den nördlichen Bundesstaaten begünstigen, und angesichts der unablässigen Gewalt im gesamten Land ist die Religionsfreiheit in Nigeria stark bedroht. Vorwiegend Christen, aber auch Muslime und Anhänger traditioneller Glaubensrichtungen, fallen der Gewalt zum Opfer. Geistliche und Gläubige leiden unter den Verbrechen der inländischen und ausländischen Dschihadisten und kriminellen Banden.
Häufig werden der „Klimawandel und soziale Spannungen“ als Erklärungen für die Gewalt angeführt. Dieses Narrativ geht aber an der Realität vorbei. Dadurch, dass die wahren Ursachen der Gewalt, insbesondere der gezielten Angriffe gegen Christen, nicht benannt werden, sind die Opfer den Verbrechen hilflos ausgeliefert. Sie werden von der Politik ignoriert. Die Bundesregierung lehnt es konsequent ab, die Schwere der Gräueltaten anzuerkennen und die Täter als „Terroristen“ zu bezeichnen, obwohl sie von nationalen und internationalen Organisationen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftlern, Politikern und Geistlichen wiederholt dazu aufgefordert wurde. Die Aussichten für die Religionsfreiheit in Nigeria bleiben düster.