Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Im Königreich der Niederlande ist der Respekt der Religions- sowie Gewissensfreiheit eine seit Langem bestehende Tradition und in der Verfassungsordnung verankert. Sie beinhaltet sechs Artikel, die entweder direkten oder indirekten Schutz der Religions- und Gewissensfreiheit gewähren. In Artikel 6 heißt es: „Jeder hat das Recht, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen frei zu bekennen, unbeschadet der Verantwortung jedes Einzelnen vor dem Gesetz.“ Die Ausübung dieses Rechts kann lediglich zum Schutz der Gesundheit, im Interesse des Verkehrs und zur Beseitigung oder Abwehr von Unruhen eingeschränkt werden.
Der Schutz von Religionsfreiheit wird darüber hinaus indirekt durch die Artikel 1, 8, 10 und 23 gewährt. Artikel 1 untersagt jegliche Diskriminierung unter anderem aufgrund der Religion oder des Glaubens. Der Artikel umfasst zudem eine Nichtdiskriminierungsklausel, die erst kürzlich durch die Diskriminierung aufgrund von Behinderung und sexueller Orientierung ergänzt wurde. Verstöße gegen Artikel 1 werden durch das Niederländische Institut für Menschenrechte bearbeitet.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird durch Artikel 7 geschützt, mit Ausnahme von Beleidigungen oder Hassrede. Der Schutz der Vereinigungsfreiheit ist in Artikel 8 der Verfassung verankert. Artikel 23 gewährleistet die Bildungsfreiheit, wobei der Religionsunterricht garantiert und durch öffentliche Mittel finanziert wird. Jeder Mensch in den Niederlanden hat die Möglichkeit, gemäß seiner religiösen Überzeugung oder Weltanschauung eine Grundschule oder eine weiterführende Schule zu gründen. Die einzigen Voraussetzungen dabei sind zum einen die Qualität des Unterrichts und zum anderen eine Mindestanzahl an Schülern.
Im Jahr 2021 wurde ein Gesetz verabschiedet, mit dem Schulen dazu verpflichtet werden, das Thema Staatsbürgerschaft im Unterricht zu behandeln. Schulkommissionen von Schulen in religiöser Trägerschaft äußerten ihre Sorge darüber, dass dieses Gesetz zukünftig dazu genutzt werden könnte, Schulen zu verpflichten, Inhalte zu unterrichten, die ihren religiösen Überzeugungen widersprechen. Alle Schulen sind bereits dazu verpflichtet, „Sexualität und sexuelle Diversität“ zu unterrichten, sodass Kinder „lernen, sexuelle Unterschiede wie auch Vorlieben zu respektieren“.
Einige politische Parteien äußerten den Vorschlag, Artikel 23 (Recht auf Bildungsfreiheit) zu ändern, um eine stärkere Kontrolle über die Bildungsinhalte an religiösen Schulen zu schaffen. Gleichzeitig sollten Schulen dazu verpflichtet werden, alle Schüler unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund aufzunehmen. Der Staatsrat riet von den geplanten Änderungen ab.
Im Mai 2022 gründete die niederländische Regierung eine neue Staatliche Kommission gegen Diskriminierung und Rassismus. Die Kommission führt Untersuchungen zu Diskriminierung und Rassismus in allen Bereichen der niederländischen Gesellschaft durch und formuliert Empfehlungen, wie damit zusammenhängende Probleme angegangen werden können.
Ein weiterer Trend, der zur Schwächung der Religionsfreiheit im Land beitragen könnte, ist die Tatsache, dass die Regierung liberale Werte als Menschenrechte bezeichnet und sie als solche fördert.
Ein Beispiel dafür war die Entscheidung der Regierung, Abtreibung als Menschenrecht zu bezeichnen, obwohl Abtreibung bis heute in keinem von der niederländischen Regierung unterzeichneten Abkommen eindeutig als Menschenrecht anerkannt ist. Auch das traditionelle Verständnis von Menschen, besonders in Hinblick auf Sexualität, Ehe sowie Geschlecht, wurde in Briefen von der Regierung an die Abgeordneten diskreditiert. Unter anderem wurde ein Brief verfasst, der von den Ministern für Kultur und Wissenschaft, Bildung, auswärtige Angelegenheiten sowie Handel und Entwicklung gemeinsam unterzeichnet wurde. Sie brachten in diesem Brief ihre kritische Haltung gegenüber anderen europäischen Ländern zum Ausdruck, die die LGBT+-Gemeinschaft nicht bevorzugt behandeln und prangerten konservative Organisationen in den Niederlanden und Europa an.
Vorkommnisse und aktuelle Entwicklungen
Eine wichtige Entwicklung während des Berichtzeitraums war der Rückgang der Anzahl von Menschen, die sich selbst als religiös bezeichnen. Im Dezember 2022 veröffentlichte das Zentralamt für Statistik der Niederlande eine Umfrage, die einen Rückgang der Zahl von Glaubensanhängern aufweist. Im Jahr 2021 fühlten sich 58 Prozent der niederländischen Bevölkerung ab 15 Jahren keinem bestimmten Glauben zugehörig. Im Jahr 2020 waren es 55 Prozent und im Jahr 2010 45 Prozent. Der stärkste Rückgang unter den größten Glaubensgemeinschaften war bei den Katholiken zu verzeichnen.
Im März 2022 wurden die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie für Gottesdienste aufgehoben.
Im September 2022 wurde Bea ten Tusscher als Nachfolgerin von Jos Douma als Sondergesandte für Religionsfreiheit für die Niederlande ernannt.
Abgeordnete der niederländischen Parteien GroenLinks und ChristenUnie brachten im Parlament einen Gesetzesentwurf vor, der eine Verschärfung des Strafmaßes für Vergehen mit diskriminierender Absicht vorsieht. Beide Parteien hatten sich seit 2018, nach einem Anschlag auf das koschere Restaurant HaCarmel in Amsterdam, mit der Erarbeitung des Entwurfs befasst. Den Befürwortern des Gesetzesentwurfs zufolge haben Hassverbrechen „nicht nur schwerwiegende Folgen für die direkten Opfer, sondern auch für die gesamte Gruppe, gegen die sich das Verbrechen richtet und demnach auch für die Gesellschaft an sich”. Ein Beispiel dafür ist ein Vorfall in Silvesternacht 2022, bei dem rechtsextreme Gruppen auf einer öffentlichen Feier in Rotterdam rassistische Parolen verbreiteten.
Antisemitische Vorfälle
Die niederländische Regierung ist in mehreren Reden auf den wachsenden Antisemitismus im Land eingegangen, insbesondere in rechtsgerichteten Verschwörungskreisen. Eine Entwicklung im Zusammenhang mit Antisemitismus ist die Zunahme an Holocaust-Leugnungen. Einer Studie zufolge halten 23 % der Niederländer im Alter von 18-40 Jahren den Holocaust für einen Mythos.
2022 folgte nach einer Reihe von Angriffen auf das koschere Restaurant HaCarmel in Amsterdam über mehrere Jahre dessen Schließung. Bei den Tätern wurde ein pro-palästinensischer und islamistisch-extremistischer Hintergrund festgestellt, die Angriffe wurden von der Polizei als „Terroranschläge“ eingestuft.
Eine Reihe politischer Parteien forderte verschärfte Maßnahmen, um so dem Antisemitismus in Stadien entgegenzuwirken. Demnach müssten Fußballvereine sich stärker gegen antisemitische Äußerungen unter Fußballfans einsetzen.
Im Dezember 2022 fand in Den Haag die dritte Konferenz der Europäischen Arbeitsgruppe zum Kampf gegen Antisemitismus statt, auf der eine EU-weite Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus für den Zeitraum 2022 bis 2025 vorgestellt wurde. Unter anderem gab es wichtige Beiträge des niederländischen Koordinators für die Bekämpfung des Antisemitismus (NCAB) sowie von Überlebenden des Holocaust, internationalen Organisationen und Vertretern der Jüdischen Jugend. Der niederländische Koordinator forderte härtere Strafen gegen Antisemitismus.
Das Christentum betreffende Vorfälle
Die reformierten Schulräte im Land zeigten sich kritisch gegenüber einem neuen Gesetz, das Schulen dazu verpflichtet, das Thema Staatsbürgerschaft im Unterricht zu behandeln. Sie äußerten die Befürchtung, dass dieses Gesetz dazu benutzt werden könnte, Ansichten über das Leben und die Sexualität vorzuschreiben, die ihren religiösen Überzeugungen widersprechen.
Am 30. März 2022 lehnte das Gericht in Den Haag eine Petition ab, die eine Strafverfolgung eines Pastors der Altrefomierten Gemeinde Mieraskerk (Oud Gereformeerde Mieraskerk) forderte. Ihm wurde vorgeworfen, Hass und Diskiminierung in einem Brief geäußert zu haben, den der Pastor 2016 an den Stadtrat gerichtet hatte. In dem Brief verurteilte der Pastor Sünden, die sich „gegen die Schöpfung richten”. Der vorsitzende Richter erklärte, dass die Aussagen und der spezifische Kontext des Briefs die Meinung des Pastors widerspiegelten und demnach durch Artikel 6 der Verfassung geschützt seien.
Vorfälle in Verbindung mit dem Islam
In 2022 reagierten Anführer der muslimischen Gemeinde heftig auf Ermittlungen, die eine heimliche Überwachung zahlreicher Moscheen über die Jahre zuvor aufgedeckt hatten.
Im Oktober 2022 richtete der Bürgermeister von Amsterdam ein Schreiben an die muslimischen Vertreter und bat um die Unterzeichnung einer Erklärung, in der Gewalt gegen LGBT+-Menschen verurteilt und den Opfern Unterstützung zugesagt wird. Auf diese Weise sollte gezeigt werden, dass die Muslime „eine positive Kraft in der Amsterdamer Gesellschaft sind“. Die meisten der 60 Vertreter der Moscheen in Amsterdam waren „empört“ über den Antrag der Stadt. Sie bezeichneten ihn als „diskriminierend und verwerflich“ und äußerten das Gefühl, dass man ihre Gemeinde zum Sündenbock machen wolle.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Grundsätzlich wird die Religionsfreiheit in den Niederlanden geschützt. Entwicklungen, die dafür sprechen, waren beispielsweise die erneute Ernennung einer Sondergesandten für Religionsfreiheit im September 2022 sowie der Gesetzesentwurf vor dem Parlament zur Verschärfung des Strafmaßes für Vergehen in Verbindung mit Diskriminierung. Dennoch wurden auf gesellschaftlicher Ebene auch Bedrohungen für das Recht auf Religionsfreiheit spürbar, nämlich durch die Zunahme von antisemitisch begründeten Vorfällen, sowohl von rechtsextremen Bewegungen als auch von islamistischen Extremisten.
Ein subtileres Problem sind jedoch die jüngsten Debatten über öffentliches Recht und Politik, in denen liberale Moralvorstellungen so vorgebracht werden, dass diejenigen an den Rand gedrängt werden, die eine andere Meinung vertreten. Ein solcher politischer Diskurs hat oft unverhältnismäßig negative Auswirkungen auf die Freiheit von religiösen Menschen, ihre Überzeugungen zu diesen Themen öffentlich zu bekunden. Beispiele hierfür sind die Bezeichnung des Rechts auf Abtreibung als Menschenrecht und die Diskreditierung traditioneller Vorstellungen über Sexualität, Ehe und Geschlecht in parlamentarischen Stellungnahmen.
Trotz dieser Bedenken sind die Aussichten für die Ausübung der Religionsfreiheit aufgrund des bestehenden Schutzes und der transparenten Anwendung der Rechtsstaatlichkeit weiterhin positiv.