Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
In Mexiko ist die Religionsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert. Ihre Ausübung wird durch das Gesetz über religiöse Vereinigungen und öffentliche Religionsausübung (Ley de Asociaciones Religiosas y Culto Público, LARCP) geregelt.
Artikel 24 der Verfassung, der Elemente aus Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufgreift, besagt: „Jeder hat das Recht auf die Freiheit ethischer Überzeugungen, des Gewissens und der Religion, sowie darauf, sich zu der Religion seiner Wahl zu bekennen bzw. sie anzunehmen. Diese Freiheit schließt das Recht ein, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sowohl öffentlich als auch privat an Zeremonien, Andachten oder gottesdienstlichen Handlungen teilzunehmen, sofern diese nicht ein Verbrechen oder Vergehen darstellen, das nach dem Gesetz strafbar ist.“ In Artikel 1 des LARCP wird klargestellt, dass auch im Hinblick auf religiöse Überzeugungen niemand „von der Einhaltung der Gesetze des Landes befreit“ ist.
Gemäß Artikel 1 der mexikanischen Verfassung sind alle staatlichen Institutionen verpflichtet, die Menschenrechte zu fördern, zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Gleichzeitig fügt Artikel 24 hinzu, dass „der Kongress keine Gesetze erlassen kann, die eine bestimmte Religion begründen oder abschaffen“.
Artikel 1 verbietet ferner jegliche Diskriminierung aufgrund von ethnischer oder nationaler Abstammung, Geschlecht, Alter, Behinderung, gesellschaftlicher Stellung, Gesundheitszustand, Religion, Ansichten, sexueller Orientierung, Familienstand oder weiterer Faktoren, auf deren Grundlage die Menschenwürde verletzt werden könnte.
Das Bundesgesetz zur Verhinderung und Beseitigung von Diskriminierung definiert jegliche Versuche, die freie Meinungsäußerung einzuschränken, sowie jede Maßnahme, die darauf abzielt, die Gedanken-, Gewissens- oder Religionsfreiheit sowie religiöse Praktiken oder Bräuche zu behindern, sofern diese nicht gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, als diskriminierend. Diese Definition von Diskriminierung wurde durch eine Gesetzesänderung im Mai 2022 wirksam.
Das LARCP regelt seinerseits verschiedene Aspekte des Lebens religiöser Vereinigungen, wie z. B. ihr Wesen, ihre Gründung und ihre Arbeitsweise (Artikel 6-10), die Beziehungen zu Mitgliedern, Geistlichen und Vertretern (Artikel 11-15), die Eigentumsordnung (Artikel 16-20), öffentliche religiöse Handlungen (Artikel 21-24) und die Beziehungen der Behörden zu religiösen Vereinigungen und deren Tätigkeit (Artikel 25-28) sowie Verstöße gegen das Gesetz und die entsprechenden Sanktionen (Artikel 29-36).
Artikel 130 der Verfassung legt die Trennung zwischen Staat und Kirche fest, die in den Artikeln 1 und 3 des LARCP bekräftigt wird. Dieser säkulare Grundsatz gilt auch für das öffentliche Bildungswesen, das nach Artikel 3 (I) der Verfassung „völlig unabhängig von jeder religiösen Lehre“ zu halten ist.
Um staatliche Einmischung zu vermeiden, ist es den Behörden verfassungsrechtlich untersagt, sich in die internen Angelegenheiten religiöser Vereinigungen (Artikel 130, b) sowie in individuelle oder kollektive religiöse Veranstaltungen einzumischen, es sei denn, dies ist notwendig, um die „Einhaltung der Verfassung, der von Mexiko ratifizierten internationalen Verträge und anderer anwendbarer Gesetze sowie den Schutz der Rechte Dritter zu gewährleisten“ (Artikel 3, LARCP).
Ebenso dürfen Bundes-, bundesstaatliche und Kommunalbeamte „nicht in offizieller Funktion an öffentlichen religiösen Kulthandlungen oder Aktivitäten mit ähnlichen Motiven oder Zwecken teilnehmen“, es sei denn, es handelt sich um diplomatische Praxis (Artikel 25, LARCP).
In Bezug auf die Unabhängigkeit des Staates gegenüber den Religionen heißt es in Artikel 24 der Verfassung: „Niemand darf diese öffentlichen religiösen Handlungen für politische Zwecke, für Wahlkampfzwecke oder als Mittel der politischen Propaganda nutzen.“ Artikel 130 (c und d) der Verfassung verbietet es Mitgliedern des Klerus, ein gewähltes Amt zu bekleiden.
Dieses generelle Verbot steht im Einklang mit den Artikeln 55 (VI) und 58 der Verfassung, die Mitglieder des Klerus davon ausschließen, Abgeordnete oder Senatoren zu werden. Gemäß Artikel 82 (IV) darf kein Geistlicher Präsident Mexikos werden.
Das Verbot wird durch das LARCP bekräftigt, wonach Angehörige des Klerus keine öffentlichen Ämter bekleiden dürfen, obwohl sie „nach Maßgabe der geltenden Wahlgesetze Wahlrecht besitzen“ (Artikel 14).
Wie die Verfassung (Artikel 130, e) enthält auch das LARCP (Artikel 29, X) weitere verfassungsrechtliche Verbote, die die Trennung von Kirche und Staat betreffen, insbesondere das Verbot für Mitglieder des Klerus, sich zu politischen Zwecken zusammenzuschließen, Propaganda für oder gegen einen Kandidaten, eine Partei oder eine politische Vereinigung zu betreiben oder sich „in öffentlichen Versammlungen gegen die Gesetze des Landes oder seiner Institutionen“ zu wenden.
Ebenso dürfen religiöse Vereinigungen und Angehörige des Klerus keine Telekommunikationskonzessionen besitzen oder verwalten, außer für gedruckte Veröffentlichungen religiösen Charakters (Artikel 16, LARCP).
Darüber hinaus legt Artikel 130 (a) der Verfassung fest, dass nur eingetragene Kirchen und Religionsgemeinschaften Rechtspersönlichkeit besitzen. In Artikel 7 des LARCP sind die Bedingungen und Anforderungen festgelegt, die zu diesem Zweck erfüllt werden müssen. Diese lauten wie folgt: „Wer einen Antrag auf Eintragung einer religiösen Vereinigung stellt, muss nachweisen, dass die Kirche oder religiöse Gruppe: 1. sich hauptsächlich mit der Ausübung und Verbreitung einer religiösen Lehre oder eines Glaubens befasst; 2. seit mindestens fünf (5) Jahren in der Mexikanischen Republik religiöse Tätigkeiten ausübt und in der Bevölkerung gut verwurzelt ist sowie ihren Sitz in der Republik hat; 3. über ein ausreichendes Vermögen verfügt, um ihren Zweck zu erfüllen; 4. über eine Satzung im Sinne von Artikel 6 Absatz 2 verfügt; und 5. gegebenenfalls die Bestimmungen von Artikel 27 Absatz I und II der Verfassung erfüllt hat.
Nach ihrer Gründung haben religiöse Vereinigungen das Recht, einen eigenen Namen zu führen, ihre internen Verwaltungs- und Betriebsstrukturen einzurichten, öffentliche Gottesdienste zu feiern und ihre Lehre zu verbreiten sowie Wohlfahrts-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen zu errichten und zu betreiben, sofern diese nicht gewinnorientiert arbeiten (Artikel 9 LARCP).
Artikel 27 (II) der Verfassung erkennt auch die Fähigkeit rechtsgültig gegründeter religiöser Vereinigungen an, Eigentum zu erwerben, zu besitzen oder zu verwalten. Wie die Verfassung (Artikel 130) verweigert jedoch auch das LARCP (Artikel 15) den Mitgliedern des Klerus das Recht, testamentarisch Personen zu beerben, die sie „geistlich geleitet oder unterstützt haben und die nicht Verwandte vierten Grades sind“.
Im Allgemeinen hat die öffentliche Religionsausübung in Gotteshäusern stattzufinden; unter besonderen Umständen ist auch eine Ausübung an anderen Orten möglich (Artikel 24 der Verfassung und Artikel 21 des LARCP). Entsprechende Handlungen müssen mindestens 15 Tage vor dem Termin bei den zuständigen Behörden angemeldet werden. Letztere können diese Handlungen nur „aus Gründen der Sicherheit und des Schutzes der Gesundheit, der Sittlichkeit, des Lärms und der öffentlichen Ordnung oder zum Schutz der Rechte Dritter“ verbieten (Artikel 22, LARCP).
Im April 2022 wurde ein Gesetzesentwurf zur Änderung des LARCP vorgelegt, mit dem die Genehmigungsverfahren für besondere gottesdienstliche Handlungen außerhalb von Gotteshäusern geändert werden sollten.
Besonders hervorzuheben ist die Gewissensfreiheit, die in Artikel 24 der Verfassung verankert ist, da sie für die Gesundheitsversorgung gilt. Artikel 10 des Allgemeinen Gesundheitsgesetzes gewährt dem im nationalen Gesundheitsdienst beschäftigten medizinischen und pflegerischen Personal das Recht auf Verweigerung medizinischer Behandlungen aus Gewissensgründen und fügt hinzu, dass eine solche Verweigerung kein Grund für Diskriminierung am Arbeitsplatz sein darf.
Im September 2021 erklärte der Oberste Gerichtshof jenen Artikel jedoch für ungültig, da dieser nicht die notwendigen Grenzen für eine Verweigerung aus Gewissensgründen festlege, ab der die Menschenrechte anderer, insbesondere das Recht auf Gesundheit, gefährdet würden. Vor diesem Hintergrund forderte das Gericht den Kongress auf, die Verweigerung aus Gewissensgründen zu regeln.
Vorfälle und Entwicklungen
Todesfälle von Klerikern
Nach Angaben der Nachrichtenagentur La Lista und des Centro Católico Multimedial (Multimediales Katholisches Zentrum) wurden zwischen Dezember 2018 und Juni 2022 mindestens sieben Priester getötet.
Im März 2021 wurde Pater Gumersindo Cortés tot (und mit Zeichen äußerer Gewalteinwirkung) aufgefunden, nachdem er zuvor als vermisst gemeldet worden war. Im Juni desselben Jahres wurde Pater Juan Antonio Orozco auf dem Weg zur heiligen Messe bei einer Schießerei zwischen um das Gebiet konkurrierenden Drogenbanden getötet.
Im April 2021 wurde Simón Pedro Pérez López, ein Katechet indigener Abstammung, ermordet. Er hatte vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) ausgesagt und dabei die mexikanischen Behörden wegen ihrer Verantwortung für das Massaker von Acteal im Jahr 1997 belastet. In einem eindringlichen Brief hatte er gemeinsam mit anderen die Belagerung der Gemeinden durch bewaffnete Menschenhändler angeprangert, die zudem Unterstützung von der staatlichen und kommunalen Polizei erhielten. Auch die örtliche Diözese brachte die Situation zur Sprache und forderte die Behörden auf, die Bevölkerung zu schützen.
Im August 2021 wurde nach Angaben der Polizei Pater José Guadalupe Popoca in seiner Kirche in Morelos erschossen.
Im Mai 2022 wurde die Leiche von Pater José Guadalupe Rivas, dem Leiter der Casa del Migrante (Haus der Migranten), in Baja California gefunden.
Im Juni 2021 wurden zwei Jesuitenpriester in einer Kirche in Chihuahua regelrecht hingerichtet. Sie hatten versucht, einem Mann zu helfen, der auf der Flucht vor den Schützen war. Drei Monate später prangerte die Vorsitzende der Conferencia de Superiores Mayores de Religiosos de México (Konferenz der Höheren Ordensoberen von Mexiko) die schleppenden Ermittlungen und das Versäumnis an, die Täter vor Gericht zu stellen.
Drohungen
Im Juli 2021 berichtete eine mexikanische Abgeordnete, aufgrund ihrer Haltung zum Schutz des Lebens und der Familie Morddrohungen erhalten zu haben; zudem sei sie politischer und juristischer Schikane ausgesetzt gewesen.
Im September 2021 wurde zwei christlichen Familien in Hidalgo angedroht, ihre Häuser von der Wasserversorgung zu trennen, wenn diese weiter Gottesdienste in ihren Wohnhäusern abhielten.24
Wie Kardinal José Francisco Robles Ortega, Erzbischof von Guadalajara, im Juni 2022 beklagte, müssen Gemeinden und ihre Pfarrer im Norden Jaliscos für die Abhaltung von Patronatsfesten die Erlaubnis von Drogenhändlern einholen – und würden zudem genötigt, die Hälfte der Kollekte an diese abzutreten.25 Robles Ortega berichtete zudem, dass kriminelle Banden in der Gegend provisorische „Kontrollpunkte“ einrichteten. Er selbst sei schon von einer dieser Gruppen aufgehalten und nach seiner Herkunft, seinem Ziel und seinem Ansinnen befragt worden.25
Angriffe, Vandalismus und Schändung von Gotteshäusern
In den Jahren 2021 und 2022 kam es zu zahlreichen Fällen von Schändungen, Vandalismus und anderen Angriffen auf Kirchen und Menschen.
So wurden etwa im Juli26 und August 202127 in drei Kirchen in Cuernavaca und Hermosillo Tabernakel geschändet. Ein weiterer, vergleichbarer Fall ereignete sich im Dezember 2021 in einer Kirche in Ciudad Juárez.28
Im März 2022 kam es während der Demonstrationen zum Internationalen Frauentag zu mehreren Fällen von Vandalismus in diversen Kirchen in Veracruz und Nuevo León.29 Im April 2022 wurden die Haupttüren des Templo de Santa Catalina de Siena in Mexiko-Stadt bei einem Brandanschlag beschädigt.30 Der Templo aus dem Jahr 1623 gilt als Kulturerbe.
Im Juni 2022 wurde in einer Pfarrkirche in Obregón, Jalisco, das Allerheiligste geschändet.31 Einen Monat später, im Juli, wurde Pater Mateo Calvillo Paz auf dem Weg nach Morelia von einem Auto angehalten. Der Insasse des Wagens schlug auf den Geistlichen ein.32 Ebenfalls im Juli 2022 wurde Pater Felipe Vélez Jiménez im Auto angehalten. Die Angreifer schossen ihm ins Gesicht, der Pater überlebte schwer verletzt.33
Im August wurden innerhalb weniger Tage sieben Kirchen in Mexiko-Stadt überfallen und beraubt. Dabei entstand zwar kein Sachschaden, die Gläubigen beklagten im Anschluss an die Vorfälle aber, sich in den Gotteshäusern nicht mehr sicher zu fühlen.34
Im September griffen unbekannte Täter während einer Taufe in einer Gemeinde in Tijuana Gemeindemitglieder an.35
Wie ein evangelikales Medium berichtete, sind in dem mehrheitlich katholischen Land vor allem Evangelikale von Zwangsvertreibung betroffen. Quellen zufolge wurden, motiviert durch religiöse Intoleranz, in Chiapas zwischen 1976 und 2016 mehr als 30 500 Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Der letzte registrierte Fall ereignete sich im Juli 2022, als zwei Familien zur Ausreise gezwungen wurden, nachdem sie sich nicht an den Feierlichkeiten zu einem katholischen Feiertag beteiligt hatten.37
Gerichtsurteile in Fragen der Religionsfreiheit
Im Juni 2021 entschied das mexikanische Wahlgericht, dass ein Kandidat, der in seinem auf Facebook veröffentlichten Wahlmaterial auf religiöse Symbole und Ausdrücke Bezug genommen hatte, damit gegen geltende Wahlvorschriften verstoßen habe.38
In einem Folgeurteil vom Januar 2022 erklärte das Gericht, dass von einem anderen Kandidaten veröffentlichte Nachrufe und Videos, die religiöse Gebäude zeigten, hingegen nicht gegen das Gesetz verstießen, da diese keine politische Propaganda darstellten.39
Ebenfalls im Januar wurden zwei Mitglieder des Klerus für die Veröffentlichung mehrerer Social-Media-Videos während des Wahlkampfes wegen politischer Einflussnahme verurteilt. Das Wahlgericht40 befand, dass die Videos zur Wahl einer bestimmten Partei aufriefen und damit gegen den Verfassungsgrundsatz der Trennung von Kirche und Staat verstießen.41 Die Katholische Bischofskonferenz von Mexiko kritisierte das Urteil, da es gegen die Meinungsfreiheit von Mitgliedern des Klerus verstoße.42
Beziehungen zwischen Staat und Kirche
Im April 2022 wurde der 30. Jahrestag der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Mexiko und dem Heiligen Stuhl begangen. Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin besuchte das Land zu diesem Anlass und unterstrich bei der Gelegenheit die Bereitschaft der Katholischen Kirche, sich gemeinsam mit den mexikanischen Behörden für ein harmonisches gesellschaftliches Miteinander und das Gemeinwohl einzusetzen. Außenminister Marcelo Ebrard dankte der Kirche für ihre Zusammenarbeit und Unterstützung während der Covid-19-Pandemie.43
Die guten Arbeitsbeziehungen hinderten die Katholische Kirche allerdings nicht daran, auch Kritik über die Zustände im Land zu äußern. So verurteilte Papst Franziskus beispielsweise im Juni 2021 das Massaker an 15 Menschen in Reynosa.44 Im selben Monat forderten die Bischöfe den Gouverneur von Hidalgo auf, sein Veto gegen die geplante Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen einzulegen. Der Kongress des Bundesstaates hatte die Möglichkeit zur Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche beschlossen.45
Der Oberste Gerichtshof Mexikos befasste sich im September 2021 mit dem Recht auf Leben sowie dem Recht auf eine Verweigerung aus Gewissensgründen von medizinischen Behandlungen im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen. Die Bischöfe sprachen sich vor diesem Hintergrund am 5. September 2021 für den Lebensschutz aus. Sie waren zuversichtlich, dass das Gericht zugunsten des Schutzes ungeborenen Lebens, unabhängig vom Entwicklungsstadium, entscheiden würde, und dass das Recht medizinischer Arbeitskräfte auf eine Verweigerung aus Gewissensgründen als Grundrecht anerkannt würde.46
Am 21. September erklärte der Oberste Gerichtshof jedoch Artikel 10 des Allgemeinen Gesundheitsgesetzes für ungültig. Dieser hatte bei Schwangerschaftsabbrüchen eine Behandlungsverweigerung aus Gewissensgründen „für medizinisches und Pflegepersonal grundsätzlich anerkannt, sofern das Leben der Patientin nicht in Gefahr ist oder es sich um einen Notfall handelt“. Arturo Zaldívar, Präsident des Obersten Gerichtshofs, verteidigte die Entscheidung. Er erklärte, dass das höchste Gericht damit „dem Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch volle Wirksamkeit verleiht“, und wies darauf hin, dass das Gesetz „die Bedingungen und Modalitäten festlegen muss, damit eine Verweigerung aus Gewissensgründen nicht mit den Pflichten der Verfügbarkeit in Gesundheitsfragen, insbesondere mit den Menschenrechten der Frauen, kollidiert“.
Die mexikanische Bischofskonferenz rief daraufhin zu einem „Marsch für die Frauen und das Leben“ auf. Mehr als 300 000 Menschen in Mexiko-Stadt folgten am 3. Oktober diesem Ruf. Landesweit brachten vergleichbare Märsche „mehr als eine Million Menschen“ auf die Straßen.
Im Januar 2022 gab die Katholische Bischofskonferenz Mexikos angesichts einer verfassungswidrigen Handlung in Bezug auf das Recht auf Leben im Bundesstaat Nuevo León eine Erklärung ab, in der sie den Gerichtshof erneut aufforderte, das Recht auf Leben vom Zeitpunkt der Empfängnis an anzuerkennen.47
Im März 2022 riefen die katholischen Bischöfe Mexikos die Wähler auf, beim Referendum zur Wiederwahl von Präsident López Obrador mit Bedacht vorzugehen.50
Im Mai berichteten die Medien ausführlich über ein Urteil des Obersten Gerichtshofs48, das es Minderjährigen ab 12 Jahren erlaubt, im Falle einer Vergewaltigung ohne elterliche Zustimmung und ohne vorherige Strafanzeige abzutreiben. Diverse Pro-Life-Gruppen kritisierten die Entscheidung scharf.49
Im Juni 2022 äußerten die Bischöfe ihre Besorgnis über die Welle der Gewalt im Land und forderten die Behörden auf, ihre Sicherheitsstrategie zu überprüfen, aber auch einen landesweiten Dialog über Gewalt und Straflosigkeit aufzunehmen.51
Andere Vorfälle
Im Jahr 2019 veröffentlichte die Regierung von Präsident López Obrador einen moralischen Leitfaden52, der von einigen Gruppen als Versuch der religiösen Indoktrinierung und als Bedrohung des säkularen Charakters des Staates angesehen wurde.53 Der Kongress des Bundesstaates Michoacán forderte den Präsidenten in einer Stellungnahme vom Juni 2021 dazu auf, den säkularen Charakter des mexikanischen Staates zu respektieren. Zugleich wies der Kongress aber den Vorwurf betroffener Gruppen zurück, dass der Inhalt des Leitfadens einen Eingriff in den säkularen Charakter des Staates impliziere, da dieser sich nicht auf religiöse Fragen, sondern nur auf Fragen moralischer Natur beziehe.54
Im Juni 2021 nahm der Kongress von Baja California Sanktionen für religiöse Diskriminierung durch Staatsbedienstete in sein Strafgesetzbuch auf.55
Im Berichtszeitraum haben verschiedene religiöse Gruppen damit begonnen, sich gemeinsam für den Frieden in Mexiko einzusetzen. So versammelten sich etwa im Juni 2021 Vertreter verschiedener christlicher, jüdischer und islamischer Organisationen in der Alten Basilika von Guadalupe, Mexiko-Stadt.56 Im Juli desselben Jahres schlossen sich buddhistische, anglikanische, lutherische, islamische, baptistische und jüdische Religionsführer einer von der Katholischen Kirche ins Leben gerufenen Initiative an, die zum Gebet für Frieden und gegen Gewalt in Mexiko aufrief.57 Bei der von der Initiative „Kirchen für den Frieden“ und anderen religiösen Organisationen im selben Monat veranstalteten „Wallfahrt für Leben, Frieden und gegen Gewalt“ brachten die Initiatoren ihre Ablehnung der Gewalttaten im Land, einschließlich der Ermordung von zwei Jesuitenpriestern, zum Ausdruck.58 Im August 2021 schlossen sich katholische und evangelische Führer zu gemeinsamen Initiativen für den Frieden59 zusammen. Auch im September kamen Vertreter verschiedener Religionen zusammen, um für den Frieden zu beten.60
Im Mai 2022 erkannten die mexikanischen Behörden in einer öffentlichen Entschuldigung ihre Verantwortung für das Massaker von Acteal im Jahr 1997 an, nachdem eine gütliche Einigung vor dem IACHR erzielt worden war.61
Im Juni 2022 wurde das Strafgesetzbuch des Bundesstaates Aguascalientes dahingehend geändert, dass der klerikale Status bei Sexualverbrechen gegenüber Schutzbefohlenen als erschwerender Faktor gilt.62
Im Juli veröffentlichte der mutmaßliche Anführer des Jalisco-Kartells Neue Generation (Cartel Jalisco Nueva Generación, CJNG) ein Video in den sozialen Medien, in dem er die Kartelle aufforderte, Priester, Ärzte und Lehrer zu respektieren und sie aus dem Drogenkrieg herauszuhalten.63
Im August wurde der Plan für die Vorschul-, Grundschul- und Sekundarschulbildung bekannt gegeben. Darin wurde der Grundsatz bekräftigt, dass Bildung frei von jeglichem religiösen Bekenntnis zu sein habe. Religion oder Spiritualität finden im Bildungswesen kaum Erwähnung.64
Im selben Monat forderte der mexikanische Kongress die Generalstaatsanwaltschaft auf, ein Verfahren gegen Herculano Medina, den Weihbischof von Morelia, einzuleiten. Dem Weihbischof wurden aufgrund von Kommentaren über Homosexualität Hassverbrechen gegen die sexuelle Vielfalt zur Last gelegt.65
Im September demonstrierten rund 15 000 Menschen in Villahermosa für das Leben, die Religionsfreiheit und die Bildung der Kinder.66
Am 8. und 9. Oktober 2022, ein Jahr nach dem von den katholischen Bischöfen Mexikos initiierten „Marsch für Frauen und Leben“, demonstrierten mehr als eine Million Menschen in 30 Bundesstaaten für Frauen, Leben und Frieden, nachdem der Oberste Gerichtshof entschieden hatte, Artikel 10bis des Allgemeinen Gesundheitsgesetzes, der die Verweigerung der Abtreibung aus Gewissensgründen zulässt, für ungültig zu erklären.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
In Mexiko hat die Gewalt gegen Priester, Gotteshäuser und Gläubige weiter zugenommen. Dafür gibt es mehrere Gründe, wie Drogenkartelle, organisierte Kriminalität, Landstreitigkeiten, Korruption, Erpressung und Racheakte. Ermittlungen zu diesen Gewalttaten haben in den meisten Fällen nur zu wenigen Verurteilungen geführt. Viele Täter bleiben straffrei, und die Gemeinden fürchten, dass die Gewalt weiter anhalten wird.
Auffällig ist dabei, dass die Angriffe auf Priester, bei denen im Berichtszeitraum fünf Menschen ums Leben kamen und mehrere weitere verletzt wurden, offenbar nicht direkt mit religiösen Überzeugungen in Zusammenhang stehen. Vielmehr scheinen sie durch den Einsatz der Geistlichen für Menschenrechte und gegen Schikane und Misshandlung in ihren Gemeinden motiviert zu sein.
In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der Hassverbrechen und der Fälle von Vandalismus gegen katholische Kirchen in verschiedenen Teilen des Landes merklich gestiegen.
Mehrere im Berichtszeitraum ergangene Gerichtsurteile geben ebenfalls Anlass zur Sorge, unterminieren sie doch wichtige Aspekte der Religionsfreiheit. Hierzu zählt beispielsweise die Entscheidung, die Bestimmungen im Allgemeinen Gesundheitsgesetz hinsichtlich einer Behandlungsverweigerung aus Gewissensgründen bei Schwangerschaftsabbrüchen zu streichen.
Angesichts der Tatsache, dass die Gewalt gegen Priester und Gotteshäuser nicht nachlässt, während wichtige Grundrechte durch Gerichtsurteile ausgehöhlt werden, sind die Aussichten für die Religionsfreiheit in Mexiko schlecht.