Gesetzeslage und deren faktische Anwendung
Die Verfassung und die Gesetze Kanadas garantieren die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie Gedanken-, Glaubens-, Meinungs- und Ausdrucksfreiheit innerhalb „angemessener gesetzlicher Grenzen, wie sie in einer freien und demokratischen Gesellschaft nachweislich gerechtfertigt sind“. Im Hinblick auf ihre Religion genießen Kanadier das Recht auf „gleichen Schutz und gleichen Nutzen des Gesetzes ohne Diskriminierung“.
Eine Diskriminierung aus Gründen der Religion ist durch Bundes- und Provinzgesetze verboten. Im Falle von Verletzungen der Religionsfreiheit können Einzelpersonen klagen und haben Anspruch auf Rechtsbehelfe.
Glaubensgemeinschaften sind nicht verpflichtet, sich behördlich registrieren zu lassen. Für eine Steuerbefreiung ist es jedoch erforderlich, dass sie als gemeinnützige Organisation bei der kanadischen Steuerbehörde (Canada Revenue Agency, CRA) registriert sind. Dieser Gemeinnützigkeitsstatus bietet ihnen einige bundesweit gültige Vorteile, z. B. Steuerabzüge für gebietsansässige Geistliche und schnellere Einwanderungsverfahren.
Das Verfassungsgesetz von 1867 garantierte Protestanten und Katholiken ein Recht auf die öffentliche Förderung konfessioneller Schulen (Abschnitt 93, 2-3). In Québec sowie in Neufundland und Labrador wurde diese Garantie allerdings inzwischen durch Verfassungsänderungen zugunsten eines säkularen öffentlichen Bildungssystems ersetzt.
In Ontario, Alberta und Saskatchewan besteht die garantierte Bereitstellung öffentlicher Mittel für katholische Schulen jedoch weiterhin. Darüber hinaus ist die Finanzierung von katholischen und protestantischen Bildungseinrichtungen aus öffentlicher Hand in den Nordwest-Territorien, Yukon und Nunavut durch Bundesgesetze geschützt.
In sechs der zehn Provinzen werden zumindest einige religiös ausgerichtete Schulen teilweise öffentlich finanziert. Hausunterricht ist in ganz Kanada legal. Eltern in Saskatchewan, Alberta und British Columbia erhalten hierbei finanzielle Unterstützung.
In Kanada wird die Religionsfreiheit definiert als „das Recht, religiöse Überzeugungen nach eigenem Ermessen zu wählen, das Recht, religiöse Überzeugungen offen und ohne Furcht vor Beschränkungen oder Repressalien zu bekennen, und das Recht, religiöse Überzeugungen durch Gottesdienst und Ausübung oder durch Lehre und Verbreitung zu bekunden“.
Für den Begriff „Religion“ besteht keine ausdrückliche Definition. Der Oberste Gerichtshof verwies jedoch darauf, dass säkulare Überzeugungen oder Praktiken nicht durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützt sind. Begründet wurde dies durch die Auffassung, dass eine Religion typischerweise als ein bestimmtes und umfassendes System aus Dogmen und Praktiken verstanden wird, welches im Allgemeinen auf dem Glauben an die Existenz einer göttlichen, übermenschlichen oder herrschenden Macht sowie persönlichen Überzeugungen oder Glaubensvorstellungen beruht, die die Kommunikation mit dem göttlichen Wesen oder mit dem Subjekt oder Objekt dieses spirituellen Glaubens fördern. Laut Gerichtshof sind die Rechte von Atheisten, Agnostikern, Skeptikern und Personen ohne Zugehörigkeit auch durch Abschnitt 2(a) der kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten gewährleistet, der die Gewissens- und Religionsfreiheit garantiert.
Der Oberste Gerichtshof Kanadas hat dabei Abschnitt 2(a) großzügig ausgelegt und erklärt, dass es im Falle einer gerichtlichen Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen besser ist, bei staatlichen Interessenskonflikten, einschließlich im Gegensatz stehenden Rechten, auf der Grundlage einer Analyse von Abschnitt 1 oder einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuwägen, anstatt den Geltungsbereich der Religionsfreiheit an sich zu begrenzen. Abschnitt 1 der Charta der Rechte und Freiheiten wird als flexibleres Rechtsinstrument zur Abwägung von Konflikten, die Rechte berühren (häufig in Bezug auf Gleichberechtigung), angesehen. Trotz des breiten Geltungsbereichs des garantierten Rechts hat der Gerichtshof dennoch gewisse Grenzen gezogen, indem er bekräftigte, dass „die Freiheit, Überzeugungen zu haben, weiter gefasst ist als die Freiheit, nach ihnen zu handeln“.
Der Oberste Gerichtshof hat auch wiederholt festgestellt, dass der Geltungsbereich der Religionsfreiheit dann eingeschränkt werden kann, wenn diese die Grundrechte anderer beeinträchtigt. Wenn die Rechte zweier Personen miteinander in Konflikt stehen, sollte der Konflikt durch eine umfassende Betrachtung der betroffenen Rechte und Werte gelöst werden.
Im Fall der Law Society of British Columbia gegen die Trinity Western University sowie in dem ähnlichen Fall Trinity Western University gegen die Law Society of Upper Canada entschied sich der Oberste Gerichtshof im Prozess für eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Auf diese Weise sollte der Konflikt zwischen den die Religionsfreiheit betreffenden Rechten der evangelikalen Mitgliedern der Trinity Western University und den Gleichstellungsrechten der LGBTQ-Menschen beigelegt werden.
Die Mehrheit der Richter befand, dass die Auswirkungen auf die Religionsfreiheit von Mitgliedern der Trinity Western University „von geringerer Bedeutung“ seien und dass die von den Anwaltskammern getroffenen Entscheidungen einen angemessenen Ausgleich zwischen den wichtigen gesetzlichen Zielen der Gleichstellung von Mitgliedern der LGBTQ-Gemeinschaft und des Vertrauens der Öffentlichkeit in den Anwaltsberuf darstellen. Das Ergebnis ist, dass es bis heute keine rein christlichen juristischen Fakultäten in Kanada gibt. Das Urteil im Fall der Trinity Western University könnte für jene kanadischen Unternehmen von Bedeutung sein, die an ihrem religiösen Ethos festhalten wollen, aber der Aufsicht eines Berufsverbandes unterliegen, der eher auf Gleichheit als auf Pluralismus ausgerichtet ist.
Anzumerken ist, dass Abschnitt 2(a) der Kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten nicht alle Erscheinungsformen von religiösem Glauben schützt. Im Fall Ktunaxa entschied der Oberste Gerichtshof mehrheitlich, dass der Anspruch der indigenen Bevölkerung auf Schutz eines heiligen Ortes vor einer geplanten Errichtung eines Skigebietes, welcher sich auf die Freiheit des spirituellen Glaubens stützt, nicht unter Abschnitt 2(a) fällt. Nach Ansicht des Gerichtshofs schützt dieser „weder das Kultobjekt noch den Gegenstand der Verehrung und die damit verbundene subjektive spirituelle Bedeutung“.
Im Mai 2021 entschied der Oberste Gerichtshof im Fall von fünf Kirchenmitgliedern aus der Nähe von Toronto, welche die Wiederaufnahme in ihre Gemeinde vor Gericht beantragt hatten, dass dieser Antrag keine Rechtsgrundlage hatte. Die fünf ehemaligen Mitglieder der äthiopisch-orthodoxen Tewahedo-Kirche St. Mary Cathedral im Großraum Toronto reichten Klage gegen die Kirche ein, weil diese sie aus der Gemeinde ausgeschlossen hatte. Der Ausschluss erfolgte, nachdem sie von der Kirche in einen Ausschuss berufen worden waren, der eine Bewegung innerhalb der Gemeinde untersuchen sollte, die von einigen als widersprüchlich zu den Glaubensgrundsätzen der Kirche angesehen wurde.
Nach seiner Untersuchung legte der Ausschuss der Kirchenleitung seine Empfehlungen dar; der Erzbischof und andere leitende Kirchenvertreter folgten den Empfehlungen des Ausschusses jedoch nicht. Die fünf Mitglieder äußerten daraufhin ihre Unzufriedenheit mit dieser Entscheidung, woraufhin die Kirche beschloss, sie aus der Gemeinde auszuschließen. Die Betroffenen zogen vor Gericht, um diese Entscheidung anzufechten und ihre Wiederaufnahme zu beantragen.
Das Oberste Gericht von Ontario wies die Klage mit der Begründung ab, dass der Ausschluss keine Frage der Rechtmäßigkeit aufwirft, die ein Verfahren erfordern würde. Das Gericht stützte seine Schlussfolgerung auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von Kanada aus dem Jahr 2018 im Fall Highwood-Gemeinde der Zeugen Jehovahs (Rechtsausschuss) gegen Wall. In diesem Fall kamen die Richter zu dem Schluss, dass Entscheidungen einer religiösen Vereinigung, die ihre Mitgliedschaft betreffen, nicht von den Gerichten überprüft werden können, wenn sie kein gesetzlich geschütztes Recht betreffen. Damit ein Gericht die internen Verfahren einer freiwilligen Vereinigung, wie z. B. einer Kirche, überprüfen kann, muss ein echtes, gesetzlich geschütztes Recht Gegenstand des zu klärenden Konflikts sein, wie z. B. eine vertragliche Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Parteien. Das Urteil steht im Einklang mit dem Grundsatz der Autonomie von Kirchen, der sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten verankert ist.
Am 16. Dezember 2020 hat der Oberste Gerichtshof von British Columbia die Praxisrichtlinie 59 veröffentlicht. Die Praxisrichtlinie „weist die Parteien und ihre Anwälte an, bei der Vorstellung vor Gericht ihre ‚korrekten Pronomen‘ zu nennen“. Kritiker dieser Entscheidung führen das Argument an, dass die Gerichte in British Columbia dadurch eine erzwungene Sprache eingeführt haben. Mit der Verabschiedung der Praxisrichtlinie haben die Provinzgerichte in British Columbia im Wesentlichen eine Anerkennung der Auffassung von Geschlechtsidentität ohne Rücksicht auf mögliche Ablehnung aus religiösen oder Gewissensgründen vorgeschrieben.
Covid-19-Pandemie
Der Umgang mit der Covid-19-Pandemie war in Kanada nach wie vor ein sehr umstrittenes Thema, das in dem sogenannten „Freedom Convoy“ gipfelte, über den weltweit berichtet wurde. Laut glaubwürdigen Berichten über die umstrittenen Trucker-Proteste nahmen auch viele Christen an der Kundgebung teil, und die Proteste waren von einem spürbaren religiösen Element durchdrungen. Wie gespalten die kanadische Bevölkerung zu religiösen Fragen stehen kann, zeigt sich daran, dass einige Experten die Teilnahme von Christen an der Demonstration mit einem „weißen christlichen Nationalismus“ gleichsetzten. Dem „Freedom Convoy“ wurde schließlich ein Ende gesetzt, als Premierminister Trudeau zum ersten Mal in der kanadischen Geschichte das Notstandsgesetz (Emergencies Act) in Kraft setzte, das die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden erheblich ausweitete und grundlegende Beschneidungen von zahlreichen Bürgerrechten zur Folge hatte.
Artur Pawlowski, ein Pastor aus Alberta, wurde wegen zahlreicher Verstöße gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie zu einer Geldstrafe verurteilt, verhaftet und anschließend inhaftiert, weil er seine Kirche trotz des herrschenden „Lockdowns“ geöffnet hatte und zudem am „Freedom Convoy“ teilnahm. Sein dritter und letzter Prozess fand im Januar 2023 statt. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts ist das Urteil noch nicht rechtskräftig. Im Februar 2023 wurden die Strafanzeigen gegen Pfarrer aufgrund angeblicher Verstöße gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in ihren Kirchen während des „Lockdowns“ durch Gerichte in New Brunswick und Ontario abgewiesen.
Vorkommnisse und aktuelle Entwicklungen
Eine kürzlich durchgeführte Studie kam zu dem Ergebnis, dass sich die religiöse Landschaft Kanadas in den vergangenen drei Jahrzehnten erheblich verändert hat. Kollektive und persönliche religiöse Aktivitäten sowie religiöse und spirituelle Überzeugungen spielen im Leben der Menschen demnach eine immer geringere Rolle.
Anhänger christlicher Konfessionen bilden mit mehr als 60 Prozent (die Hälfte davon Katholiken) nach wie vor die Mehrheit, gefolgt vom Islam (3,6 Prozent), dem Hinduismus (1,4 Prozent) und dem Sikhismus (1,4 Prozent). Die Zahl der Mitglieder der drei letztgenannten Religionen hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Mehr als ein Drittel der kanadischen Bevölkerung gab an, keiner Religion anzugehören oder eine säkulare Einstellung zu vertreten (Atheisten, Agnostiker, Humanisten und sonstige). Auch der Bevölkerungsanteil dieser Gruppe hat sich in 20 Jahren mehr als verdoppelt. Dieser Trend stimmt mit anderen Entwicklungen überein, die auf einen Rückgang der Bedeutung von religiösen und spirituellen Überzeugungen im Leben der Menschen hinweisen. Hier ist ein Rückgang von 71,0 Prozent im Jahr 2003 auf 54,1 Prozent im Jahr 2019 zu beobachten. Dieser Rückgang erklärt möglicherweise, warum es keinen größeren Widerstand gegen die Beschneidung der Religionsfreiheit im Allgemeinen durch kanadische Gesetze und Gerichtsentscheidungen gegeben hat.
Bevölkerungsprognosen zufolge wird der Anteil der Kanadier, die einer „sichtbaren Minderheit“ angehören, sowie der Personen, die einer nicht christlichen Religion angehören, voraussichtlich steigen. Bis 2036 werden „sichtbare Minderheiten“ demnach mehr als ein Drittel der Kanadier im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) ausmachen. Gleichzeitig lassen Prognosen darauf schließen, dass die Zahl der Kanadier, die einer nicht christlichen Religion angehören, von 9 Prozent (2011) bis 2036 auf 13-16 Prozent der Bevölkerung ansteigen wird.
Bei einer Volkszählung im Jahr 2021 gaben etwa 81 000 Menschen (0,2 % der Gesamtbevölkerung) an, einer traditionellen indigenen Spiritualität anzugehören; die meisten von ihnen (90,2 %) sind Angehörige der First Nations. Von den 1,8 Millionen Menschen in Kanada, die sich als indigen identifizieren, gab fast die Hälfte (47,0 Prozent) an, keiner Religion anzugehören; mehr als ein Viertel (26,9 Prozent) gab an, katholischen Glaubens zu sein.
Die Covid-19-Pandemie hat Fragen um Sicherheit und Diskriminierung in Kanada noch weiter aufgedeckt und verschärft, vor allem auch in Bezug auf Hassverbrechen. Hassverbrechen richten sich gegen wesentliche und sichtbare Merkmale der Identität von Menschen und können unverhältnismäßige Auswirkungen auf ganze Gemeinschaften haben. Diese Verbrechen können sich gegen Personen oder Merkmale ausgehend von Hautfarbe, nationaler oder ethnischer Herkunft, Religion, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität oder -ausdruck, Sprache, Geschlecht, Alter, geistiger oder körperlicher Behinderung oder anderen ähnlichen Aspekten richten.
Während der Covid-19-Pandemie gab es Berichte über die Diskriminierung jüdischer und muslimischer Gemeinschaften, die in der Regel mit einer allgemeineren antijüdischen und antimuslimischen Haltung verbunden waren und auf Desinformation und Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Gesundheitskrise zurückzuführen waren.
Die Zahl der polizeilich registrierten Hassverbrechen in Kanada ist von 2646 Vorfällen im Jahr 2020 um 27 Prozent auf 3360 Vorfälle im Jahr 2021 gestiegen. Ein Jahr zuvor war die Zahl um 36 Prozent gestiegen. Insgesamt stieg die Zahl der polizeilich erfassten Hassverbrechen zwischen 2019 und 2021 um 72 Prozent. Der Anstieg ist hauptsächlich auf die Zunahme von Hassverbrechen gegen Menschen aufgrund ihrer Religion (+ 67 Prozent, 884 Vorfälle), ihrer sexuellen Orientierung (+ 64 Prozent, 423 Vorfälle) und ihrer Hautfarbe oder ethnischen Herkunft (+ 6 Prozent, 1723 Vorfälle) zurückzuführen. Die Zahl der Hassverbrechen ist 2021 in allen Provinzen und Territorien gestiegen, außer in Yukon, wo sie unverändert blieb.
Die Daten der Polizei zu Hassverbrechen berücksichtigen nur die Vorfälle, die ihr gemeldet werden und als Hassverbrechen eingestuft werden können. Daher können Schwankungen in der Zahl der gemeldeten Vorfälle entweder eine tatsächliche quantitative Veränderung widerspiegeln oder aber auf eine Veränderung im Meldeverhalten solcher Verbrechen durch die Bevölkerung hinweisen. Die Schwankungen können auch auf eine weitreichendere Definition des Begriffs „Hass“ seitens der Personen hinweisen, die solche Straftaten melden.
Den von der Polizei gemeldeten Daten zufolge nahmen Hassdelikte während des Berichtszeitraums zu und waren gegen Juden (+ 47 Prozent), Muslime (+ 71 Prozent) sowie Katholiken (+ 260 Prozent) gerichtet. Der Anstieg der gegen die muslimische Bevölkerung gerichteten Hassdelikte folgte auf einen Rückgang im Jahr 2020. Auch wenn es nicht möglich ist, polizeilich gemeldete Hassverbrechen mit bestimmten Ereignissen in Verbindung zu bringen, können die Medienberichterstattung und der öffentliche Diskurs zu einem schärferen Bewusstsein führen und negative Reaktionen bei Menschen hervorrufen, die eine gewisse Feindseligkeit hegen oder sich anderweitig entrechtet fühlen. So kam es auch zu einem Vorfall in 2021, als nicht gekennzeichnete Gräber auf dem Gelände ehemaliger Internatsschulen entdeckt wurden.
Als Folge des Fundes kam es zu Meldungen von Hassverbrechen, die gegen indigene Völker sowie gegen Kirchen und andere religiöse Einrichtungen gerichtet waren. Jede Straftat, bei der die Polizei ein Hassmotiv feststellt, wird in die Statistik aufgenommen. Eine detaillierte Analyse von Juristat über polizeilich gemeldete Hassverbrechen in Kanada für das Jahr 2021 ist für Anfang 2023 geplant.
Zwischen Mitte Juni und Ende Juli 2021 wurden in Kanada zahlreiche Kirchen in Brand gesetzt, unter anderem in British Columbia, Alberta und Saskatchewan. In anderen Teilen des Landes kam es zu Vandalismus an Kirchengebäuden. Insgesamt wurden 68 Anschläge auf Gotteshäuser gemeldet.
Zwar gibt es keine eindeutigen Beweise für einen Zusammenhang zwischen den Brandanschlägen und dem Fund von nicht gekennzeichneten Gräbern in der Nähe ehemaliger Internatsschulen, die von religiösen Gemeinden betrieben werden; dennoch forderten die First Nations ein Ende des Vandalismus, „der den Schmerz der indigenen Bevölkerung nur noch weiter vergrößert“.
Im April 2021 kam der Oberste Gerichtshof von Québec zu einer Entscheidung im Fall des Säkularisierungsgesetzes der Provinz, das auch als „Bill 21“ bekannt ist. Die Entscheidung sorgte fast ausschließlich für Unzufriedenheit. Nach mehreren Anhörungen wurde das Gesetz vom vorsitzenden Richter weitgehend gestützt. Der Richter Marc-André Blanchard stellte zwar fest, dass das Gesetz gegen Grundfreiheiten wie die Religionsfreiheit verstößt, kam jedoch zu dem Schluss, dass eine Aufhebung des Gesetzes nicht möglich sei, da es unter Abschnitt 33 der Charta der Rechte und Freiheiten falle. Dieser Abschnitt wird oft auch als „Nichtsdestotrotz-Klausel“ bezeichnet und gibt dem Bundesparlament sowie den Gesetzgebern der Provinzen und Territorien das Recht, Abschnitt 2 der Charta für fünf Jahre vorübergehend außer Kraft zu setzen. Blanchard erklärte allerdings lediglich jene Bestimmungen für verfassungswidrig, die englischsprachige Schulbehörden und gewählte Mitglieder der Nationalversammlung von Québec betrafen.
Die umstrittene Gesetzgebung, die im Juni 2019 von der Regierung unter der Coalition Avenir Québec verabschiedet wurde, verbietet das Tragen religiöser Symbole durch bestimmte Staatsbedienstete bei der Ausübung ihrer Tätigkeit, darunter Lehrer an öffentlichen Grund- und weiterführenden Schulen, Polizeibeamte, Richter sowie Staatsanwälte (Crown Attorney).
Die Entscheidung von Richter Blanchard machte das fragile Gleichgewicht, in dem die Rechte der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen stehen, deutlich. Insbesondere wurden ihm Argumente über die ernsthafte Benachteiligung religiöser Minderheiten und die negativen Auswirkungen auf die Rechte muslimischer Frauen vorgetragen, die von dem Gesetz ausgehen.
Eine im August 2022 von der Association for Canadian Studies (ACS) veröffentlichte Studie unterstreicht die Schwere der Auswirkungen des „Gesetzes zur Wahrung des Laizismus des Staates“, so der offizielle Name des Säkularisierungsgesetzes. Berichten zufolge ist die Zahl der durch Hass motivierten Vorfälle gegen religiöse Minderheiten in Québec seit der Verabschiedung des Gesetzes stark angestiegen. Laut einer Umfrage des Marktforschungs- und Analyseunternehmens Léger, die von der ACS in Auftrag gegeben wurde, sind zwei Drittel der muslimischen Frauen seit der Verabschiedung dieses Gesetzes Opfer oder Zeugen eines Hassvorfalls geworden.
Im Juni 2021 wurde in London, Ontario, beinahe eine gesamte muslimische Familie getötet, als sie von einem wahnwitzigen Lkw-Fahrer angefahren wurde, der die fünf Opfer mutmaßlich vorsätzlich überfuhr und so vier von ihnen tötete. Nach Angaben des Polizeipräsidenten deutet alles darauf hin, dass die Tat durch die Religion der Opfer motiviert war.
Im April 2022 wurden vor einer Moschee in Scarborough, Ontario, nahe Toronto, fünf muslimische Gläubige nach ihrem Gebet durch „willkürliche“ Schüsse verletzt.
Während seines Besuchs in Kanada im Juli 2022 im Rahmen einer selbst ausgerufenen Bußwallfahrt entschuldigte sich Papst Franziskus in aller Form bei „First Nations, Metis und Inuit, die aufgrund von Unterdrückung [...] durch religiöse und staatliche Autoritäten Leid erfahren haben“.
Mathieu Lavigne, Leiter der Mission Chez Nous (eine Organisation, die mit indigenen Völkern arbeitet), hat in diesem Zusammenhang einen Artikel mit dem Titel „Laissez les mots se deposer“ (Lasst die Worte zur Ruhe kommen) verfasst, in dem er schreibt: „Die Bußwallfahrt von Papst Franziskus hat bei den Indigenen unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen; sie reichen von einem Gefühl der Beruhigung bis zu erneutem Leid, von Dankbarkeit bis zu Enttäuschung, von Tränen der Heilung bis zu Tränen der Wut. Wäre es nicht klüger, die Zeit ihre Arbeit tun zu lassen?“
Das im Rahmen der kanadischen Anti-Rassismus-Strategie eingerichtete Bundessekretariat gegen Rassismus veranstaltete 2021 zwei nationale Gipfeltreffen: das Nationale Gipfeltreffen zur Islamophobie und das Nationale Gipfeltreffen zum Antisemitismus. Beide Treffen sollten das Bewusstsein für Vorurteile und Antidiskriminierungsstrategien in Bezug auf Religion und Religiosität schärfen.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Die kulturelle Kluft in Kanada nimmt weiter zu, was zu einer negativen Stereotypisierung gegenüber glaubensbasierten Ansichten und Religionsangehörigen geführt hat. Auch die sozio-religiöse Landschaft verändert sich aufgrund des demografischen Wandels und des Rückgangs der Zahl an Menschen, die sich als Christen bezeichnen, immer weiter. Kanada ist nach wie vor ein Ort, an dem die Rechtsstaatlichkeit geachtet wird; die Achtung der Religionsfreiheit hat in den vergangenen Jahren jedoch spürbar abgenommen, insbesondere dort, wo sie mit festgefahrenen Ansichten auf Gleichheit, Vielfalt und die Gesundheit der Bevölkerung in Konflikt geraten ist.