Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
In der irakischen Verfassung aus dem Jahr 2005 wird der Islam als offizielle Staatsreligion und als eine „Quelle der Gesetzgebung“ bezeichnet. Gemäß Artikel 2 darf kein Gesetz verabschiedet werden, das den Vorschriften des Islams, den Grundsätzen der Demokratie oder den verfassungsmäßigen Rechten und Freiheiten widerspricht. Ebenfalls laut Artikel 2 sind die islamische Identität der Mehrheit der Iraker und die religiösen Rechte von Christen, Jesiden und sabäischen Mandäern gleichermaßen geschützt.
Nach Artikel 4 hat jeder Bürger das Recht, „seine Kinder in deren Muttersprache, unter anderem Turkmenisch, Syrisch und Armenisch, zu erziehen“. In staatlichen Bildungseinrichtungen wird dieses Recht im Einklang mit den Lehrplänen und Bildungsrichtlinien gewährleistet. Andere Sprachen können in privaten Bildungseinrichtungen angeboten werden.
Rassismus, Terrorismus und Takfirismus (die Praxis, einen anderen Muslim der Apostasie zu bezichtigen) sind gemäß Artikel 7 verboten. Der Staat hat laut Artikel 10 die Pflicht, „Heiligtümer und heilige Stätten“ sowie „den freien Vollzug von Ritualen in ihnen“ zu schützen.
Artikel 14 gewährleistet die Gleichbehandlung vor dem Gesetz „ohne jegliche Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Nationalität, der geografischen Herkunft, der Hautfarbe, der Religion, der Sektenzugehörigkeit, des Glaubens, der Überzeugung, der wirtschaftlichen oder der sozialen Stellung“. Der Staat ist laut Artikel 37 verpflichtet, seine Bürger vor „geistiger, politischer und religiöser Nötigung“ zu schützen.
Artikel 41 sieht vor, dass Personenstandsangelegenheiten entsprechend den unterschiedlichen „Religionen, Sekten, Überzeugungen und Entscheidungen“ per Gesetz zu regeln sind. Die „Gedanken-, Gewissens- und Glaubensfreiheit“ sind in Artikel 42 verankert.
Den Irakern steht es gemäß Artikel 43 unter „Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften“ frei, ihre religiösen Riten zu vollziehen, ihre religiösen Angelegenheiten zu regeln und religiöse Institutionen und Stiftungen zu verwalten. Darüber hinaus werden Gebetsstätten laut Artikel 43.2 durch den Staat geschützt.
Muslimen ist es aufgrund der Personenstandsgesetze und -vorschriften nicht gestattet, zu einem anderen Glauben zu konvertieren. Nach Paragraf 372 des irakischen Strafgesetzbuchs von 1969 können das Beleidigen von religiösen Gefühlen und von Personen, die als heilig gelten, angebetet oder verehrt werden, das Verunglimpfen religiöser Praktiken und das Schänden von religiösen Symbolen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe geahndet werden.
Neun von 329 Sitzen im Repräsentantenrat (Parlament) sind laut Gesetz Mitgliedern von Minderheitengruppen vorbehalten. Die Städte Bagdad, Ninive (antike Stadt; entspricht heute ungefähr der Stadt Mossul), Kirkuk, Erbil und Dohuk entsenden jeweils einen christlichen Abgeordneten. Des Weiteren entfällt jeweils ein Sitz auf einen Jesiden, einen sabäischen Mandäer und einen Schabak. Das Gouvernement Wasit hat zudem einen Sitz für einen Faili-Kurden vorgesehen. Auch im irakisch-kurdischen Parlament sind 11 der 111 Sitze für religiöse und ethnische Minderheiten reserviert.
Vorfälle und Entwicklungen
Fünf Jahre nachdem der Irak offiziell den Sieg über den IS (Islamischer Staat) erklärt hat, sind die Auswirkungen der dschihadistischen Besetzung großer Teile des Landes immer noch spürbar. Sunnitische Dschihadisten verüben weiterhin Anschläge – tatsächlich haben diese Gruppen ihre Angriffe auf Schiiten in großen Städten wie Bagdad und Basra sogar noch verstärkt.
Mehr als 200 000 Jesiden leben nach wie vor als Binnenvertriebene in städtischen Gebieten oder Vertriebenenlagern. Mehr als „2700 jesidische Frauen und Kinder werden immer noch vermisst, seit sie vom IS aus Sinjar entführt wurden“. Einige von ihnen werden Berichten zufolge in Syrien oder der Türkei festgehalten.
Christen kehren bisher nur zögerlich in die ehemalige „Hauptstadt“ des IS Mossul zurück. Christliches Kernland bleibt die Ninive-Ebene, wo die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Lage aber aufgrund der Aktivität sektiererischer Milizen schlecht ist. Davon abgesehen sind die Bevölkerung im Allgemeinen und religiöse Minderheiten wie Jesiden und Christen im Besonderen auch von externen Faktoren wie den anhaltenden türkischen Luftangriffen im Nordirak betroffen. Im Folgenden daher eine als repräsentativ anzusehende Auflistung von Vorfällen, die sich im Berichtszeitraum ereigneten:
Im März 2021 besuchte Papst Franziskus als erstes Oberhaupt der Katholischen Kirche den Irak. Er wurde von den Staats- und Regierungschefs begrüßt und besuchte die Städte Bagdad, Erbil, Najaf, Karakosch, Ur und Mossul. Im Sinne des interreligiösen Austauschs traf Papst Franziskus sich mit dem schiitischen Führer Großayatollah Sayyid Ali Al-Husayni Al-Sistani und besuchte eine Zusammenkunft im Haus Abrahams in Ur.
Ebenfalls im März erklärte der damalige irakische Premierminister Mustafa Al-Kadhimi den 6. März zum „Nationalen Tag der Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens“ im Irak. Die Ankündigung erfolgte nach dem Treffen zwischen Papst Franziskus und Großayatollah Al-Sistani.
Das irakische Parlament verabschiedete im selben Monat das „Gesetz für die überlebenden Jesiden“. Dieses sieht vor, dass Angehörige der Jesiden und anderer Minderheiten, die die Gräueltaten des IS überlebt haben, von der Regierung entschädigt werden sollen. Die Wiedergutmachung umfasst „monatliche Zahlungen, die Bereitstellung von Grundstücken oder Unterkünften sowie Bildungs- und Therapiedienstleistungen für Überlebende. Das Gesetz wurde weithin als erster und notwendiger Schritt begrüßt.“ Wie Jan Ilhan Kizilhan, ein jesidischer Psychologe und Traumatherapeut, allerdings ein Jahr später erklärte, stünden „die Leistungen für die Überlebenden bislang noch aus“. Zudem berücksichtige das Überlebendengesetz nicht die Kinder, die von jesidischen Frauen in Gefangenschaft geboren wurden.
Irakische Parlamentarier, die religiösen und ethnischen Minderheiten angehören, boykottierten im März 2021 eine Gesetzesänderung, die darauf abzielte, ausschließlich islamische Experten als Berater für das Oberste Bundesgericht des Irak zu ernennen.
Im April 2021 forderte das Oberhaupt der Chaldäisch-Katholischen Kirche, Patriarch Louis Raphael I. Sako, dass Begriffe wie „Ungläubige“ oder „Polytheisten“ (takfir, kafir), die Christen beleidigen, aus Texten in Schulen gestrichen werden sollten.
Im selben Monat kündigte die kurdische Regionalregierung die Einsetzung eines Ad-hoc-Ausschusses an, der gegen illegale Enteignungen in der Autonomen Region Kurdistan und insbesondere in der Region Dohuk vorgehen soll. Im Laufe der Jahre waren Christen und andere religiöse oder ethnische Minderheitengruppen in der Region immer wieder von Landraub betroffen gewesen. Diese Enteignung von Christen durch ihre kurdischen Mitbürger war bereits 2016 angeprangert worden.
Im Mai 2021 wurde eine Kirche in Miska durch türkischen Beschuss beschädigt. Die laufenden türkischen Operationen gegen die PKK haben viele christliche Dorfbewohner gezwungen, ihre Häuser zu verlassen.
Im Juni 2021 erklärte Masrour Barzani, Ministerpräsident der irakischen Region Kurdistan, den größtenteils christlich geprägten Vorort Ankawa in Erbil zu einem offiziellen Bezirk. Mit dieser Entscheidung erhalten die Bewohner des Bezirks, von denen viele vor Verfolgung aus der irakischen Ninive-Ebene geflohen sind, „administrative Kontrolle“ und sind nicht mehr direkt dem Bürgermeister von Erbil unterstellt. Laut Bashar Matti Warda, dem Erzbischof von Erbil, werde Ankawa damit zum „größten christlichen Bezirk im Nahen Osten“. Bei seinem Besuch bezeichnete Masrour Barzani Ankawa als einen Ort des „religiösen und sozialen Zusammenlebens und des Friedens für viele unserer christlichen Brüder und Schwestern, die aus welchen Gründen auch immer nicht in anderen Orten und Regionen des Irak bleiben konnten“.
Im selben Monat lobte die Kommission der Vereinigten Staaten für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) die Ankündigung des US-Außenministeriums, die für das Haushaltsjahr 2021 vorgesehenen Mittel für humanitäre Hilfe im Irak um 155 Millionen US-Dollar (auf insgesamt 200 Millionen US-Dollar) aufzustocken. Die Hilfe sollte den vom IS vertriebenen Irakern, einschließlich religiöser Minderheiten, zugutekommen.
Im Juli 2021 zündete ein Angreifer in Sadr City, einem überwiegend schiitischen Viertel der Hauptstadt, vor dem muslimischen Feiertag Eid al-Adha eine Bombe, die mehr als 30 Menschen tötete und 50 verletzte. Der DAESH bekannte sich wenig später zu dem Anschlag.
Am 24. September 2021 trafen sich 300 prominente Stammesführer und Würdenträger in Erbil zu einer Friedenskonferenz, die vom US Center for Peace Communications gesponsert wurde. Die aus den sechs irakischen Provinzen Bagdad, Anbar, Mossul, Salahedin, Babil und Diyala stammenden Führer sprachen sich für eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel und den Eintritt in „das Rahmenwerk der Abraham Accords Declaration (zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko)“ aus. Am 25. September wiesen irakische Regierungsvertreter diese Forderungen zurück. Das Büro von Premierminister Mustafa Al-Kadhimi bezeichnete das Treffen als „illegal“.
Im September wurde angekündigt, dass die Glocken der von Dominikanern verwalteten „Kirche der Stunde“ künftig wieder läuten würden. Die Glocken hatten seit der dschihadistischen Besetzung der Stadt zwischen 2014 und 2017, während der die Kirche beschädigt worden war, nicht mehr geläutet. Zuvor, im August 2021, hatte der französische Präsident Emmanuel Macron die Kirche besucht.
Im September 2021 würdigte die irakische Post den Besuch des Papstes und sein Treffen mit Ayatollah Al-Sistani mit der Herausgabe einer Reihe von Gedenkbriefmarken.
Ebenfalls im September erklärte der chaldäische Erzbischof Bashar Matti Warda von Erbil gegenüber KIRCHE IN NOT, dass die Machtergreifung durch die Taliban in Afghanistan muslimische Extremistengruppen wie dem IS im Irak neuen Aufwind gegeben habe.
Bei den Parlamentswahlen im Oktober wurden vier der fünf Sitze, die nach dem nationalen Wahlsystem für christliche Kandidaten reserviert sind, an Mitglieder der sogenannten Babylon-Bewegung vergeben. Der fünfte Sitz ging an einen unabhängigen Kandidaten. Diesem Ergebnis war eine Ankündigung im Mai 2021 vorangegangen, nach der mindestens 34 Christen entweder auf Parteilisten oder als Einzelkandidaten antreten würden. Einige Christen kritisierten, dass nicht christliche Gruppierungen wie die Babylon-Bewegung das Quotensystem für sich nutzten, indem sie christliche Kandidaten aufstellten, die aber nicht unbedingt die Christen des Landes oder deren Interessen vertraten. Zudem wurde aus christlichen Kreisen beanstandet, dass die Abstimmung über die Quotensitze nicht auf Wähler aus Minderheitengruppen beschränkt war. Der chaldäische Patriarch Louis Raphael I. Kardinal Sako äußerte die Sorge, dass Christen die Wahlen aus diesem Grund boykottieren könnten. Die christlichen Wähler seien aufgrund der weit verbreiteten Überzeugung, dass die Christenquote doch wieder von den hegemonialen Parteien und politischen Kräften „gekapert“ werde, schlichtweg „müde“. Im Juli 2021 hatte die christliche Partei der „Söhne zweier Flüsse“ (Beth Nahrain) ihre Absicht angekündigt, die Wahlen zu boykottieren.
Wie oben aufgeführt, erklärte der Ministerpräsident der kurdischen Regionalregierung den christlich geprägten Vorort Ankawa (Erbil) im Oktober zu einem autonomen Bezirk mit weitreichenden Selbstverwaltungsbefugnissen. So können Christen zum Beispiel künftig „ihren eigenen Bürgermeister direkt wählen und sich um Fragen der Sicherheit kümmern“.
Ebenfalls im Oktober 2021 verübte der IS in der Region Diyalah einen tödlichen Anschlag auf Angehörige eines mehrheitlich schiitischen Stamms. Dem Attentat fielen mindestens 11 Menschen zum Opfer. Nach dem Anschlag kam es zu Vergeltungsangriffen auf örtliche Sunniten, bei denen Zivilisten getötet und Häuser und Höfe niedergebrannt und zerstört wurden.
Im November 2021 wurde die Hauptkirche des chaldäischen Klosters Mar Korkis in Mossul nach jahrelangen Restaurierungsarbeiten wiedereröffnet. Die Kirche war während der dschihadistischen Besetzung schwer beschädigt worden.
Ebenfalls im November bestätigte Reber Ahmed, Innenminister der Regierung der Autonomen Region Kurdistan, die feste Absicht der Regionalregierung, die Eigentumsrechte, die in den vergangenen Jahrzehnten zum Nachteil der christlichen Bürger und anderer Minderheitengruppen verletzt wurden, vollständig wiederherzustellen.
Im selben Monat wurde in Al-Amarah das Haus eines christlichen Ladenbesitzers, der eine offizielle Lizenz für den Verkauf von Alkohol hatte, mit selbstgebastelten Sprengsätzen angegriffen.
Im Dezember 2021 tötete eine Bombe im überwiegend schiitisch geprägten Basra vier Menschen. Die Behörden machten den IS für den Anschlag verantwortlich.
Im Februar 2022 war der chaldäische Patriarch Raphael I. Sako als einziger religiöser Führer für einen Vortrag auf einer Konferenz mit über zweitausend Vertretern der politischen Parteien des Irak eingeladen. Beobachtern maßen der Einladung zu dem jährlichen Treffen besondere Bedeutung bei, da sie vom schiitischen Führer Ammar Al-Akim, dem ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Islamischen Rates des Irak, ausgesprochen worden war.
Ebenfalls im Februar 2022 wurde in Erbil der Grundstein für die künftige Kathedrale der Assyrischen Kirche des Ostens gelegt. Die Kirche soll das religiöse und administrative Zentrum des Patriarchats der Assyrischen Kirche des Ostens werden und markiert deren Rückkehr in den Irak.
Am 19. April 2022 zogen Iraker anlässlich eines Festes durch die Straßen des Stadtteils Zubair in Basra. Das für schiitische Muslime wichtige Fest wird jedes Jahr während des Ramadans gefeiert.
In der Osterwoche im April 2022 wurde die chaldäisch-katholische Kirche St. Kyriakos in Batnaya wiedereröffnet. Die Kirche war fast acht Jahre zuvor durch den IS beschädigt und entweiht worden. Dabei hatten die Extremisten Statuen enthauptet, den Altar demoliert und antichristliche Parolen an die Wände der nahe gelegenen Kapelle der Unbefleckten Empfängnis geschrieben.
Ebenfalls im April 2022 fand in der syrisch-katholischen Kirche Mar Thoma (St. Thomas) in Mossul die erste heilige Messe nach dem Sieg über den IS statt. Das Gebäude war von den Dschihadisten schwer beschädigt worden.
Im Mai 2022 erneuerten mehr als 40 irakische Religionsführer ihr Versprechen, die Vereinten Nationen bei der Aufarbeitung der Verbrechen des IS zu unterstützen.
Im Juni 2022 kritisierte der chaldäische Patriarch Louis Raphael I. Sako, dass in der irakischen Verfassung nur der Islam als Quelle der Gesetzgebung genannt wird. Nach Ansicht des Kardinals führe die Tatsache, dass der Islam die Rechtsgrundlage für politische und soziale Praktiken bildet, unweigerlich dazu, dass Christen und Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften als „Bürger zweiter Klasse“ diskriminiert würden. In seiner Erklärung betonte der Kardinal, dass die irakischen Christen wahre Patrioten und keine „Minderheit“ von „Ungläubigen“ seien.
Im selben Monat verlängerte der schiitische Politiker und Milizenführer Muqtada Al-Sadr das Mandat des Ausschusses für die Rückgabe unrechtmäßig enteigneten Eigentums. Ziel dieses Ausschusses ist, christlichen oder mandäischen Gemeinden unrechtmäßig entzogenes Eigentum zurückzugeben. Im Februar 2022 war in diesem Zusammenhang bekannt gegeben worden, dass 120 Wohnungen an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben wurden.
Im Juli 2022 erklärte der chaldäische Erzbischof von Mossul, Najib Mikhael Moussa, dass der Geist der rassistischen Ideologie des DAESH nach wie vor in den Köpfen eines Teils der Gesellschaft verankert sei, insbesondere bei weniger kultivierten Menschen. Bislang kehren Christen daher auch nur äußerst zögerlich nach Mossul zurück.
Im August kritisierte der chaldäische Patriarch Louis Raphael I. Sako den politischen Stillstand im Irak und erklärte das Quotensystem für die verschiedenen Glaubensgemeinschaften als gescheitert. Besonders hob er hier den Streit zwischen verschiedenen schiitischen politischen Gruppierungen bei den Präsidentschaftswahlen und der Regierungsbildung hervor: Um die erneute Wahl des ehemaligen Premierministers Nouri Al-Maliki zu verhindern, hatten Anhänger des Schiitenführers Muqtada Al-Sadr im Juli das Parlament besetzt. Gemäß der irakischen Verfassung muss das Staatsoberhaupt aus den Reihen der kurdischen politischen Vertreter gewählt werden, während der Parlamentspräsident ein Sunnit und der Premierminister ein Schiit sein muss.
Patriarch Sako warnte ebenfalls im August 2022 davor, dass die Christen sich ganz aus dem Land zurückziehen könnten, wenn sich die Regierungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik nicht ändere. In seiner Rede am ersten Tag einer Kirchensynode in Bagdad sagte er: „Die irakischen Christen, und vielleicht auch die Christen anderer Nationen, werden bald verschwinden, wenn es keinen Wandel im Denken und im staatlichen System gibt.“ Weiter erklärte er, das das islamische Erbe im Irak „Christen zu Bürgern zweiter Klasse“ mache und „die Aneignung ihres Eigentums“ zulasse. Einmal mehr forderte Sako eine Änderung der Verfassung.
Sako erklärte zudem, dass die weltweite Krise und der Krieg in der Ukraine den „alarmierenden“ Exodus der Christen aus dem Nahen Osten noch verschärfen würden. Wie der Kardinal sagte, habe „diese Situation negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der Kirche im Irak, in Syrien und im Libanon“. Aufgrund der begrenzten Mittel der Kirche und der schwindenden Spenden von Wohltätigkeitsorganisationen habe die Kirche Mühe, die Christen vor Ort durch ihre Organisationen zu unterstützen.
Im selben Monat wurden Zahlen veröffentlicht, nach denen 70 Prozent der einst 100 000 Mandäer den Irak seit 2003 verlassen haben. Die Wurzeln dieser monotheistischen religiösen Minderheit reichen vor die Anfänge des Christentums zurück.
Am 1. September trafen sich über 1700 junge Christen zum dreitägigen Ankawa Youth Meeting, dem größten Jugendfestival des Landes. Der Organisator der Veranstaltung, Pater Dankha Joola, erklärte, nach der genozidalen Besetzung des Irak durch den IS von 2014 bis 2016, der etliche Christen, Jesiden und andere Minderheiten zum Opfer fielen, sei diese Veranstaltung von entscheidender Bedeutung für eine Wiederbelebung der Kirche. Er sagte: „Indem wir hier so zahlreich erscheinen, können wir sagen: ‚Wir sind hier, wir existieren, wir spielen eine Rolle in diesem Land‘. Und das ist so wichtig, wenn man bedenkt, wie sehr wir in den vergangenen Jahren gelitten haben.“
Im selben Monat wurde die syrisch-katholische Kirche der heiligen Behnam und Sarah in Baghdeda (Karakosch) wiedereröffnet, nachdem sie acht Jahre zuvor durch den IS beraubt und niedergebrannt worden war. Gemeindepfarrer Boutros Sheeto erklärte den Wiederaufbau der Kirche zu einem „wichtigen Zeichen im Kampf um den Erhalt des christlichen Glaubens im Irak“. Er sagte: „Der Wiederaufbau gibt unserer Gemeinde neue psychologische und moralische Kraft. Ohne ihn würden viele Familien heute über Auswanderung nachdenken.“
Ebenfalls im September 2022 schlug eine Rakete in der „Amir Ali bin Abi Talib“-Hussainia östlich von Bagdad ein. Dabei waren Sachschäden, jedoch keine menschlichen Opfer zu beklagen.
Im selben Monat wurde der neue Hauptsitz der Assyrischen Kirche des Ostens in Erbil eingeweiht. Der Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans, Masoud Barzani, nahm an der Zeremonie teil.
Im Oktober wurden den vom IS vertriebenen Christen, die in der Vertriebenensiedlung der Jungfrau Maria in Bagdad lebten – darunter chaldäische und syrische Katholiken, syrisch-orthodoxe Christen und Assyrer – behördliche Räumungsbescheide zugestellt. Patriarch Sako appellierte an die Regierung, die Räumungen aufzuschieben. Weihbischof Basilio Yaldo aus Bagdad erklärte: „Die Kirche tut ihr Bestes, um die Abschiebung der Familien zu stoppen, die aus verschiedenen Gebieten der Ninive-Ebene vertrieben wurden. In der Siedlung leben auch nicht vertriebene christliche Familien, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um Häuser zu mieten, in denen sie leben können.“
Am 27. Oktober 2022 bestätigte das irakische Parlament nach mehr als einem Jahr politischer Grabenkämpfe und Pattsituationen die neue Regierung von Premierminister al-Sudani. Vor seiner Wahl zum Premierminister hatte al-Sudani die Ministerämter für Menschenrechte sowie für Arbeit und Soziales innegehabt.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Die politische Lage im Irak bleibt instabil. Der jahrelange Stillstand nach den Wahlen im Oktober 2021 und die anhaltenden politischen Rivalitäten und Gewalttätigkeiten treiben das Land immer wieder an den Rand des Zusammenbruchs. Die Wahl von Premierminister al-Sudani gibt allen tiefen Spaltungen zum Trotz jedoch Grund für (vorsichtigen) Optimismus.
Im Berichtszeitraum gab es aber auch weitere positive Entwicklungen: Die Verabschiedung des „Gesetzes für die überlebenden Jesiden“ war ein wichtiger Schritt zur Überwindung des Unrechts, das Minderheiten durch den IS erleiden mussten. Der Apostolische Besuch von Papst Franziskus gab den irakischen Christen Hoffnung, dass die historische Präsenz und der Beitrag der Christen im Irak anerkannt und die interreligiöse Verständigung gefördert werden.
Insgesamt steht der Irak gerade an einem Scheideweg, und religiöse Minderheiten sind weiterhin gefährdet. Da die gleiche Staatsbürgerschaft für alle Iraker noch nicht eingeführt ist, kann von einer vollumfänglich garantierten Religionsfreiheit noch keine Rede sein. Inwieweit die Religionsfreiheit und viele weitere Menschenrechte gewahrt werden, hängt damit von der (sicherheits-)politischen Stabilität des Landes ab. Diese erscheint weiterhin zweifelhaft und sollte daher auch zukünftig genau beobachtet werden.