Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Das Vereinigte Königreich ist Unterzeichner internationaler Konventionen, darunter die Europäische Menschenrechtskonvention, die das Land zur Einhaltung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit, verpflichten. So wurde etwa die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in Artikel 9 das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit festschreibt, vollumfänglich in britisches Recht umgesetzt. Parlamentarischen Quellen zufolge wird der Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill von 2022, ein Gesetzesentwurf, mit dem alle EU-Rechtsvorschriften im Vereinigten Königreich ersetzt oder aufgehoben werden sollen, „Auswirkungen auf die Menschenrechte“ haben. Doch weil es sich um „einen allgemeinen Gesetzesentwurf [handelt], der Minister mit umfassenden Vollmachten ausstattet“, sind die konkreten Folgen, einschließlich möglicher Auswirkungen auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, bislang schwer abzusehen.
Als Staatskirche prägt die anglikanische Church of England seit dem 16. Jahrhundert das öffentliche religiöse Leben in England. Sie genießt bis heute gewisse Privilegien, zum Beispiel Sitze im Oberhaus des britischen Parlaments für 26 anglikanische Bischöfe. In Schottland hat die presbyterianische Church of Scotland den Status einer Staatskirche. Bei einer 2021 in England und Wales durchgeführten Volkszählung lag der Anteil der bekennenden Christen bei 46,2 % und damit das erste Mal unter der Marke von 50 % (allerdings fiel der Anteil mit 79,7 % in Nordirland wesentlich höher aus). Tatsächlich ging die Zahl der regelmäßigen Gottesdienstbesucher gegen Ende des 20. Jahrhunderts massiv zurück. Als Reaktion auf das Ergebnis der Volkszählung äußerte sich Stephen Cottrell, anglikanischer Erzbischof von York, wie folgt: „Die Zeiten, in denen viele sich fast automatisch zum Christentum bekannt haben, sind vorbei.“
Mit Ausnahme von schottischen Schulen, an denen sechsmal pro Jahr „der Glaube praktiziert“ werden muss, sind alle staatlichen Schulen gesetzlich verpflichtet, täglich eine Versammlung abzuhalten. In England müssen diese Schulversammlungen zwar in den meisten Fällen einen „weitgehend christlichen Charakter“ haben, doch sind sie nicht zwingend jeden Tag christlich geprägt und können auch andere religiöse Traditionen aufgreifen. Eltern haben das Recht, ihre Kinder von diesen Aktivitäten freizustellen. In England und Wales können sich Schüler im Alter von 16 bis 18 Jahren selbst von den Versammlungen abmelden.
Darüber hinaus sind staatliche Schulen verpflichtet, Religionsunterricht anzubieten, der sowohl den christlichen Glauben als auch andere Weltreligionen einbezieht. In England können Eltern ihre Kinder von der Teilnahme freistellen und haben Schüler ab einem Alter von 14 Jahren die Möglichkeit, sich selbst vom Religionsunterricht abzumelden. 2022 hob die walisische Regierung dieses Freistellungsrecht von Eltern und älteren Schülern auf, obwohl eine Evaluierung im Januar 2020 zu dem Schluss gekommen war, dass eine „Entscheidung gegen das Recht auf Abmeldung … sich auf einige Religionsgemeinschaften negativ auswirken wird“.
Im Berichtszeitraum hat die britische Regierung Maßnahmen zur Förderung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ergriffen. So fand vom 5. bis 7. Juli 2022 die Internationale Ministerkonferenz zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit in London statt. Dabei standen „verstärkte globale Maßnahmen für die allgemeine Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ auf der Tagesordnung. Die an der Konferenz teilnehmenden nationalen Regierungen wurden dazu aufgefordert, gemeinsam eine allgemeine Erklärung sowie sieben Stellungnahmen zum Thema Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu unterzeichnen. Auch wenn die meisten der Erklärungen positiv aufgenommen wurden, forderten einige Teilnehmer die Änderung einer Bestimmung in der „Erklärung zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit und zur Gleichstellung der Geschlechter“. Diese Bestimmung sollte die Unterzeichner zur kritischen Auseinandersetzung mit Gesetzen verpflichten, die „Frauen und Mädchen in der vollen und gleichberechtigten Ausübung der Menschenrechte einschränken (auch in Bezug auf ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte, einschließlich des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung)“. Die britische Organisation Humanists UK (Humanisten des Vereinigten Königreichs) sprach sich jedoch gegen eine Änderung der Bestimmung aus und schrieb einen offenen Brief an die damalige Ministerin für auswärtige Angelegenheiten, Commonwealth- und Entwicklungsfragen Liz Truss. Darin wurde die Ministerin aufgefordert, den ursprünglichen Text beizubehalten und den Sachverhalt im Kontext der Debatte zu sehen, die durch den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten nach seiner Aufhebung der Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht (im Fall Roe gegen Wade) losgetreten wurde. Diese Episode machte deutlich, wie groß und teilweise grundlegend die Differenzen unter den verschiedenen Interessengruppen der Konferenz waren. Deshalb stellt sich die Frage, warum ein so umstrittenes Thema wie „reproduktive Gesundheit und Rechte“ Gegenstand einer Initiative wurde, die eigentlich auf breite Unterstützung abzielte.
Vorkommnisse und aktuelle Entwicklungen
Den jüngsten Untersuchungen des Pew Forum zufolge finden in der britischen Gesellschaft weiterhin zahlreiche religiös motivierte Übergriffe statt. Dies belegen auch weitgehend die staatlichen Zahlen. Laut Innenministerium wurde ein allgemeiner Anstieg der Hasskriminalität in England und Wales verzeichnet: So gab es im Zeitraum von April 2021 bis März 2022 bei religiös motivierten Hassdelikten einen Zuwachs von 37 % (auf 8730 Delikte). Im Vergleich dazu wurden im vorherigen Berichtszeitraum von April 2020 bis März 2021 6383 Fälle registriert. Damit wurde „ein Rekordwert bei den religiös motivierten Hassverbrechen seit Beginn der Aufzeichnungen (d. h. seit dem Berichtszeitraum bis März 2012) erreicht“. Umgekehrt verlief die Entwicklung in Schottland, wo 512 Straftaten aus religiösen Gründen für den Zeitraum von 2021 bis 2022 gemeldet wurden. Dies entspricht einem Rückgang von 16 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum (2020 bis 2021) und ist der niedrigste Stand seit 2004 bis 2005. Sektarismus ist in Schottland und Nordirland weiterhin ein großes Problem. Die nordirische Polizei meldete für den Zeitraum von Oktober 2021 bis September 2022 856 sektiererische Vorfälle (gegenüber 802 im Zeitraum von 2020 bis 2021). Hiermit wurde eine neue Höchstmarke für einen 12-Monatszeitraum seit 2016 erzielt. Ferner registrierte die Polizei 35 sonstige religiös motivierte Straftaten im Berichtszeitraum (gegenüber 54 im Vorjahreszeitraum).
A)Jüdische Gemeinschaft
Laut Angaben der britischen Nichtregierungsorganisation Community Security Trust (Stiftung für Gemeinschaftssicherheit/CST) führte der Konflikt zwischen Israel und Palästina im Mai 2021 zu „den schlimmsten antisemitischen Hasstaten im Vereinigten Königreich der letzten Jahre“ (Nach Protesten und einer zunehmenden Verschärfung der Lage in Ostjerusalem verübten die Hamas und der Palästinensische Islamische Dschihad mehr als 2.900 Mörserangriffe. Dabei kamen zehn Menschen, darunter zwei Kinder, ums Leben. Als Reaktion darauf führten die Israelischen Verteidigungskräfte [IDF] 950 Luftangriffe auf den Gazastreifen durch. Dabei wurden unter anderem 40 Schulen und vier Krankenhäuser ganz oder teilweise zerstört. 181 Menschen, darunter 52 Kinder, verloren bei den Angriffen ihr Leben.). Für die Aktionen der IDF wurden britische Juden zum Sündenbock gemacht oder anderweitig unverhältnismäßig ins Visier genommen. So verzeichnete die CST vom 8. Mai bis 7. Juni 2021 628 Hassverbrechen und damit einen neuen monatlichen Höchstwert. In 585 Fällen wurde durch „Sprache, Bilder oder Verhaltensweisen Bezug auf den Israel-Gaza-Konflikt genommen“. In diesem Zeitraum fand auch ein gewalttätiger Angriff auf Rabbi Rafi Goodwin statt. Dieser erlitt Kopfverletzungen, als er vor der Chigwell-and-Hainault-Synagoge attackiert wurde. In Hendon, einem Stadtteil im Nordwesten Londons, wurde das Auto einer Jüdin verfolgt und gerammt. Das Angreiferfahrzeug war mit palästinensischen Flaggen geschmückt. 360 der registrierten Fälle ereigneten sich im Großraum London, wo zum Beispiel jüdische Schülerinnen in einem Bus von einem Schüler aus einer anderen Schule mit „Freiheit für Palästina und Sch**ß-Israel“ und „Dumme Juden“ beschimpft wurden. Angesichts dieser Geschehnisse ist es wenig verwunderlich, dass die CST 2255 antisemitische Vorfälle im Jahr 2021 und somit einen neuen Rekordwert für ein Kalenderjahr verzeichnete.
Auch im ersten Halbjahr 2022 wurden 786 antisemitische Vorfälle von der CST erfasst. Die Daten sind ein Hinweis dafür, dass Hassverbrechen gegen die jüdische Gemeinschaft kontinuierlich zunehmen: „Von Januar bis Juni 2022 wurden mehr als 100 antisemitische Vorfälle pro Monat verzeichnet. Damit setzt sich der Trend der vergangenen Jahre fort, in denen eine hohe Gesamtzahl antisemitischer Strafhandlungen registriert wurde.“ Insgesamt wurden Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in 49 Fällen direkt bedroht. Davon betroffen war unter anderem ein Paar, das zu einem Bahnhof in London zu Fuß unterwegs war. Auf dem Weg dorthin kam ihnen ein Mann entgegen, der sie mit folgendem Wortlaut anschrie: „Ich hasse euch Sch**ß-Juden mit euren Hakennasen. Am liebsten würde ich euch verprügeln!” Das Paar ignorierte den Mann und ging weiter, wurde aber von ihm verfolgt. Als dieser die beiden eingeholt hatte, „steckte er eine Hand unter seinen Gürtel und tat so, als ob er ein Messer herausholen wollte“. Dabei sagte er: „Ich werde euch abstechen!“
Im April 2022 äußerte sich der britische Bildungsminister Nadhim Zahawi besorgt über den „systematischen Antisemitismus“ in der National Union of Students (Nationalen Studentenvereinigung/NUS). Zahawi reagierte damit auf die Bedenken der Union of Jewish Students (Vereinigung jüdischer Studenten) anlässlich eines Tweets der damaligen NUS-Vorsitzenden Shaima Dallali. Diese hatte 2012 den folgenden islamischen Schlachtruf veröffentlicht, der mit einem historischen Massaker an Juden in Verbindung steht: „Erinnert euch an Khaybar, Khaybar, oh Juden, … die Armee Mohammeds wird Gaza zurückbringen!“ Dallali entschuldigte sich für ihren vor zehn Jahren veröffentlichten Tweet und erklärte, „sie sei nicht mehr dieselbe wie damals“. Die NUS leitete daraufhin unter der Führung von Kronanwältin Rebecca Tuck unabhängige Ermittlungen zu Antisemitismus innerhalb der Organisation ein. Nach Abschluss der ersten Ermittlungen wurde Shaima Dallali im September 2022 von ihrem Amt suspendiert. Die Federation of Student Islamic Societies (Organisation zur Vertretung islamischer Gesellschaften an Colleges und Universitäten) bezeichnete ihre Suspendierung als „klare Ausweitung der institutionellen Islamophobie im Bildungssektor“. Im November 2022 wurde Dallali von der NUS gekündigt, nachdem sich aus den Ermittlungen „erhebliche Verletzungen der NUS-Bestimmungen“ ergeben hatten.
Bereits in früheren Ausgaben des vorliegenden Berichts wurde festgestellt, dass einige in den vergangenen Jahren als „sehr gut“ eingestufte jüdische Schulen als „mangelhaft“ herabgestuft wurden. Häufig führte das Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills (Amt für Bildungsstandards, Kinderbetreuungsleistungen und Qualifikationen/OFSTED) als Grund für die Herabstufung dieser Schulen an, dass deren religiösen Ansichten mit den derzeit als gängig geltenden gesellschaftlichen Überzeugungen (insbesondere in Bezug auf Geschlecht und Sexualität) in Widerspruch stünden. Die von OFSTED 2019 gegebene Begründung für die Herabstufung der King David High School in Crumpsall, einem Vorort von Manchester, von „sehr gut“ zu „mangelhaft“ hielt einer juristischen Überprüfung nicht stand; die Behörde hatte den geschlechtergetrennten Unterricht als „Diskriminierung“ bewertet. Dennoch verhängte OFSTED im März 2022 Sondermaßnahmen gegenüber der Schule, die in einem neuen Bericht abermals als „mangelhaft“ bewertet wurde. Auch dieses Mal begründete die Behörde ihr Vorgehen unter anderem damit, dass Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet würden. Joshua Rowe, der Vorsitzende der Schulleitung, erklärte, dass der neue Bericht von OFSTED „ein Bild von der Schule zeichne, das der wahrgenommenen Realität nicht im Geringsten entspreche”. Dazu führte er weiter aus: „Vom ersten Morgen an erhielt ich von Schülern und Lehrern die Rückmeldung, dass die Inspekteure allem Anschein nach gezielt nach Fehlern suchten und keine objektive Prüfung durchführten.“ Zu einer weiteren negativen OFSTED-Bewertung im Anschluss an einen zweitägigen Besuch im Juli 2022 erklärte der Interimsvorsitzende der Schulleitung Jonathan Dover, dass die Schule „eifrig daran gearbeitet habe, den Anforderungen von OFSTED gerecht zu werden“.
Das Thema Bildung stand auch im Fokus, als Haredi-Juden anlässlich der Internationalen Ministerkonferenz zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit demonstrierten und dabei einen gelben Judenstern trugen. Rund 200 Menschen protestierten gegen den staatlichen Bildungsgesetzesentwurf, der vorsieht, dass die Jeschiwot, die traditionellen jüdischen Talmudschulen, auch weltlichen Unterricht erteilen und unter die Aufsicht von OFSTED fallen sollen. Während einige Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft kritisieren, dass die Jeschiwot keinen modernen Lehrplan haben, genießen diese Schulen bei Haredi-Juden nach wie vor breite Unterstützung. Mit den Protesten sollte auf Widersprüche der staatlichen Politik hingewiesen werden: Einerseits war die Regierung Gastgeber einer internationalen Konferenz zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit und andererseits möchte sie den Jeschiwot im Rahmen des neuen Gesetzesvorhabens Vorschriften machen. Die Tatsache, dass bei der Demonstration gelbe Judensterne zum Einsatz kamen, verteidigte Rabbi Chaim Sofer mit den starken Emotionen, die der Gesetzesentwurf hervorgerufen habe: „Während die Nationalsozialisten in Deutschland Juden physisch vernichten wollten, möchte die britische Regierung jüdische Seelen zerstören.“ Dazu ergänzend erklärte der Rabbi: „Auch wenn 2022 keine Gaskammern errichtet werden können, wird damit ein gewisser Hass gegenüber dem Talmud und unseren Traditionen zum Ausdruck gebracht.“
B)Muslimische Gemeinschaften
Während sich 23 % der religiös motivierten Hassverbrechen in England und Wales im Zeitraum von 2021 bis 2022 gegen die jüdische Gemeinschaft richteten, zielten 42 % auf Muslime ab. Dabei wurden 3459 muslimfeindliche Fälle verzeichnet. Anhänger des muslimischen Glaubens werden nach wie vor häufig schikaniert. Laut einem im Juli 2022 von der Kent University und der gemeinnützigen Organisation Belong veröffentlichten Bericht erleben 73 % der britischen Muslime Diskriminierungen in unterschiedlicher Form. Neben der Intersektionalität bei Diskriminierungsfällen wurde im Zuge der Untersuchung festgestellt, dass 85 % der Musliminnen im Alter von 18 bis 30 Jahren laut eigenen Angaben in der Vergangenheit diskriminiert wurden.
Im Rahmen einer anderen Studie gaben 42 % der befragten Moscheen und Islamzentren an, in den vergangenen drei Jahren Ziel religiös motivierter Anschläge gewesen zu sein. Dabei wurden am häufigsten Fälle von Vandalismus registriert. Insbesondere besorgniserregend ist der Umstand, dass im betreffenden Zeitraum bei 17 % der angegriffenen Moscheen auch physische Attacken stattfanden. In einem Fall wurde sogar ein Imam erstochen. Beispielhaft für die physischen Angriffe ist der Vorfall, der sich im Mai 2021 während des Fastenmonats Ramadan ereignete: Vor dem Islamzentrum in Ilford wurden fünf Gläubige mit Eiern und Steinen beworfen, als sie das Gebäude um 23 Uhr nach den Tarawih-Gebeten verließen. Der Angriff auf die Gläubigen erfolgte aus einem vorbeifahrenden silbernen Kombiwagen heraus.
Muslimfeindliche Gefühle waren auch der Hauptgrund für den Brandanschlag auf eine Grenzkontrollstelle der Border Force in Dover, der am 30. Oktober 2022 stattfand und für landesweite Schlagzeilen sorgte. Eine Stunde vor dem Anschlag hatte der 66-jährige Täter Andrew Leak auf Twitter geschrieben: „Wir werden sie auslöschen, muslimische Kinder sind jetzt unser Ziel. Auch ihre ekelhaften Frauen nehmen wir ins Visier. Mütter und Schwestern werden lebendig verbrannt.” Andrew Leak hatte davor rechtsradikalen Gruppierungen seine Unterstützung über Twitter zugesagt.
Im Oktober 2022 stellte die britische Regierung Pläne für die Veröffentlichung einer offiziellen Definition von Islamophobie zurück. Die Begriffsdefinition war erstmals im Mai 2019 Gegenstand von Debatten. Damals lehnte die Regierung die von der All-Party Parliamentary Group on British Muslims (einer parteiübergreifenden parlamentarischen Gruppe für britische Muslime) erarbeitete Definition von Islamophobie mit der Begründung ab, diese sei zu vage. Im Anschluss daran wurde der Imam Qari Asim MBE als stellvertretender Vorsitzender der von der britischen Regierung ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe gegen Muslimfeindlichkeit federführend damit betraut, eine Definition von Islamophobie zu entwickeln. Während der Amtszeit von Boris Johnson kam dieses Vorhaben allerdings ins Stocken. Imam Asim beklagte, weder Ressourcen noch einen klaren Auftrag erhalten zu haben. Ferner blieben seiner Aussage zufolge Schreiben an Minister unbeantwortet. So habe er auch Michael Gove, den Minister für „Levelling-up“ (Angleichung der Lebensverhältnisse), Wohnungswesen, Gemeinde- und Kommunalverwaltung um ein Treffen gebeten und keine Antwort erhalten. Im Juni dieses Jahres wurde der Imam von Minister Gove entlassen, da dieser „eine Kampagne zur Einschränkung der freien Meinungsäußerung“ unterstütze. Der Imam hatte sich an Protesten gegen die Ausstrahlung des Kinofilms „The Lady of Heaven“ beteiligt, der das Leben von Fatima, der Tochter des muslimischen Propheten Mohammed, aus schiitischer Perspektive erzählt. Der Film „berge die Gefahr, Extremismus und gesellschaftliche Spannungen zu fördern; dies untergrabe den Zusammenhalt in der britischen Gesellschaft“, so der Imam.
Anna Firth, konservatives Parlamentsmitglied für Southend West, zeigte sich besorgt darüber, dass das Bildungsministerium trotz der 2014 gemachten Zusage, die Pläne für eine schariakonforme Studienfinanzierung für muslimische Studenten nicht vorangebracht habe. Diese Finanzierung sollte alternativ zu den aktuell angebotenen Studiendarlehen zur Verfügung stehen. Dabei verwies Firth auf eine Umfrage, der zufolge 4000 junge Muslime aus finanziellen Gründen kein Studium begonnen hätten.
C)Christliche Kirchen
Obwohl christliche Gemeinschaften in England und Wales seltener von religiös motivierten Hassverbrechen als jüdische und muslimische Gemeinschaften betroffen waren, wurden im Zeitraum von 2021 bis 2022 immer noch 701 Vorfälle registriert (dies entspricht 8 % der Gesamtfälle). Im Februar 2022 meldete der Priester Emyr Gwyn Evans, dass junge Täter sein Haus in Tumble, Carmarthenshire, mit Eiern und anderen Gegenständen beworfen hätten. Zwei der Täter, die den nonkonformistischen Priester als „christlichen Fundamentalisten“ bezeichnet hatten, bekamen die polizeilichen Auflage, an einem Programm für Rückfallprävention teilzunehmen.
In einer im November 2021 veröffentlichten Studie wurden für einen Zeitraum von zwölf Monaten 1731 Fälle von Vandalismus oder Sachbeschädigung, einschließlich Brandstiftung, an Kirchen im Vereinigten Königreich festgestellt. Im Berichtszeitraum fand unter anderem ein Anschlag auf die St. Mary’s Church in Riccall, North Yorkshire statt, wo am 24. Juni 2022 im Eingangsbereich ein Holzkreuz in Brand gesteckt wurde. Die Polizei wertete diesen Vorfall als Hassverbrechen, weil hier ein religiöses Symbol offenbar vorsätzlich angezündet wurde.
Einige Christen erlebten Schwierigkeiten, wenn ihre religiösen Überzeugungen mit den als gängig geltenden gesellschaftlichen Ansichten kollidierten. Häufig empfinden Christen, dass ihr Recht auf freie Meinungsäußerung durch liberale Vorschriften beschnitten wird. Ein Beispiel dafür sind die kontrovers diskutierten Pufferzonen um Abtreibungskliniken. Im September 2022 erteilten Fraktionsvorsitzende der Scottish National Party (Schottischen Nationalpartei/SNP) Shettlesten John Mason, einem Mitglied des schottischen Parlaments für Glasgow, eine schriftliche Verwarnung, weil er sich auf Twitter zu einer Mahnwache vor einer Abtreibungsklinik und der Kritik an den dabei verwendeten Protestschildern geäußert hatte. Die Plakate kommentierte er wie folgt: „Die Protestschilder sind sicherlich freundlich formuliert und bieten Hilfe” und „Ich kann auf den Schildern keine hasserfüllten Gefühle und keine schikanierenden Aussagen erkennen.“ Die SNP hatte zu jener Zeit vor, einen Gesetzesentwurf zur Einführung von Pufferzonen einzubringen. Schon in der Vergangenheit hatte Mason erklärt, dass er Schwangerschaftsabbrüche „selten für wesentlich oder lebenswichtig“ halte. Von den Fraktionsvorsitzenden wurde dem christlichen Abgeordneten mitgeteilt, dass er zwar ein Recht auf Gedankenfreiheit habe, aber „mit der Verbalisierung seiner Ansichten, die in medizinischen Kreisen im Übrigen als Fehlinformation gälten, viel Stress und Leid über Frauen gebracht habe“.
Am 6. Dezember 2022 wurde Isabel Vaughan-Spruce in der Nähe der BPAS Robert Clinic im Birminghamer Stadtteil Kings Norton verhaftet. Dabei wurde ihr vorgeworfen, eine Pufferzone zu missachten und so gegen eine Anordnung zum Schutz des öffentlichen Raumes zu verstoßen. Videoaufnahmen zeigen sie in der Nähe der Klinik, als sie von der Polizei nach dem Grund ihrer Anwesenheit gefragt wurde. Nachdem sie zunächst bestritten hatte zu protestieren, räumte sie nach weiterer polizeilicher Befragung ein, dass sie vielleicht in Gedanken gebetet habe. Die Polizei nahm sie daraufhin fest, weil Gebete laut der vom Stadtrat Birmingham erlassenen Anordnung zum Schutz des öffentlichen Raumes als „Protestaktion“ gelten. Obwohl die Klinik zum Zeitpunkt des Vorfalls geschlossen war, wurde Isabel Vaughan-Spruce dafür angeklagt, dass sie „protestiert und mit ihrer Handlung Patientinnen eingeschüchtert habe“.
Eine Reihe von in England verhafteten Straßenpredigern wurden nach ihrer Festnahme freigesprochen. Im Oktober 2022 entschuldigte sich die London Metropolitan Police bei der christlichen Predigerin Hatun Tash und zahlte ihr 10.000 Pfund Schadensersatz, nachdem diese zweimal irrtümlicherweise festgenommen worden war. Bevor die vom Islam konvertierte Christin Tash am 23. Mai 2021 verhaftet wurde, wurde sie von einer Gruppe muslimischer Männer an der „Speakers’ Corner“ im Londoner Hyde Park belästigt. Die Polizei forderte die Männer und Hatun Tash dazu auf, den Ort zu verlassen. Tash weigerte sich zu gehen und wurde wegen Landfriedensbruch festgenommen. Im Anschluss wurde sogar Anklage im Sinne von Paragraf 4 des Public Order Act gegen sie erhoben. Im November 2022 wurde eine Anklage gemäß Paragraf 5 des Public Order Act gegen John Dunn fallengelassen. Die Klage gegen ihn war erhoben worden, weil er während einer Predigt in Swindon zu einem lesbischen Paar gesagt hatte, „dass Homosexuelle laut Bibel nicht das Königreich Gottes erben würden“ (vgl. 1 Korinther 6,9-10). Der Staatsanwaltschaft zufolge habe Swindon das Public Order Act verletzt, weil er die Frauen „beleidigt“ und „verärgert“ habe. Dem hielten Dunns Anwälte entgegen, dass das Gesetz erst bei gravierenderen Vergehen greife. Tatsächlich liege erst dann eine Straftat vor, wenn „bedrohliche oder beleidigende Worte oder Verhaltensweisen oder ein ungebührliches Verhalten … im Hör- oder Sichtfeld der betroffenen Person vernommen bzw. festgestellt würden und die Person sich dadurch belästigt, beunruhigt oder bedrängt fühle“. Die Staatsanwaltschaft führte dazu weiter aus: „In der Bibel stehen Aussagen, die für eine moderne Gesellschaft einfach nicht mehr zeitgemäß sind und als Beleidigung gelten, zitiert man sie öffentlich.“ Im Namen der Regierung erklärte Lord Stewart of Dirleton daraufhin, die Staatsanwaltschaft sei nach einer Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass die Äußerung zur Bibel „unangemessen“ gewesen sei.
Christen, die bei ihrer Arbeit im Gesundheitswesen Schwierigkeiten bekamen, wurden in der Regel rehabilitiert. Im Dezember 2021 entschied ein Arbeitsgericht, dass die 61-jährige katholische Krankenschwester Mary Onuoha zu Unrecht vom NHS (National Health Service) entlassen wurde, weil sie sich weigerte, ein kleines Kreuz abzunehmen, das sie während ihrer Arbeit um den Hals trug. Ebenso entschuldigte sich das Marie-Curie-Hospiz in Solihull im November 2022 öffentlich bei dem 73-jährigen Laienseelsorger Derek Timms, der dort ehrenamtlich tätig war. Die methodistische Pastorin Dee Yeadon hatte ihn als neue Organisatorin der Seelsorge dazu aufgefordert, ein kleines Kreuz am Revers abzunehmen. Das Kreuz könne ihrer Begründung nach eine Barriere zwischen dem Seelsorger und seinen Patienten schaffen. Außerdem könne er sein Ehrenamt nicht mehr ausüben, wenn er das Kreuz weiter trage.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Die Tatsache, dass soziale Anfeindungen gegen Mitglieder von Religionsgemeinschaften im Vereinigten Königreich zunehmen, ist sehr besorgniserregend. So wurde bei den religiös motivierten Hassverbrechen ein neuer Höchstwert seit Beginn der Aufzeichnungen erreicht. Angesichts dieser Entwicklung gibt es wenig Grund zur Hoffnung, dass sich die Situation im Vereinigten Königreich in den nächsten Jahren zum Positiven wendet.
Es gibt zahlreiche Vorfälle, die einem Kulturkrieg gleichen, bei dem nur eine Seite gewinnen kann. Dies hat zur Folge, dass die andere Seite ihre Werte und Normen aufgeben muss. Diese Haltung scheint sich weiter ihren Weg in der Gesellschaft zu bahnen und wirkt sich auf den Umgang mit Religionsgemeinschaften aus. Daraus resultiert nicht nur ein hartes Vorgehen der staatlichen Organe. Ebenso ist eine Polarisierung der Gesellschaft zu beobachten, in der Religionsgemeinschaften als die „andere Seite“ betrachtet werden. Dies wiederum führt zu Angriffen und Anschlägen auf Mitglieder religiöser Organisationen. Dennoch wurden behördlich eingeschränkte Rechte von Gläubigen teilweise gerichtlich wiederhergestellt.
Obwohl es positive Initiativen wie die Ministerkonferenz zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit gab, zeigten sich die britische Regierung und die staatlichen Organe bei vielen religiösen Themen wenig kompetent. Davon zeugt auch der Umgang des Amts für Bildungsstandards, Kinderbetreuungsleistungen und Qualifikationen (OFSTED) mit traditionellen jüdischen Schulen. So ist kaum nachvollziehbar, dass einige der Probleme, mit denen religiöse Schulen wie die King David High School in Manchester konfrontiert sind, nicht als Verletzung der Religionsfreiheit betrachtet werden.
Zur Lösung der oben genannten Probleme sind Strategien notwendig, um die religiöse Kompetenz in den britischen Behörden zu verbessern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Ohne entsprechende Maßnahmen können die Perspektiven für die Religionsfreiheit nicht vollständig positiv ausfallen.