Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Laut Verfassung wurde der Vielvölkerstaat Bolivien „mit der Kraft unserer [Mutter Erde] Pachamama und in Dankbarkeit gegenüber Gott“ gegründet.
Artikel 1 der Verfassung beschreibt Bolivien als einen „interkulturellen“ Staat, der von kultureller Vielfalt geprägt ist.
In Artikel 4 ist die Unabhängigkeit von Staat und Religion ebenso festgeschrieben wie die Religions- und Glaubensfreiheit.
Laut Artikel 98 (II) ist die Religion Teil der bolivianischen Kultur: „Der Staat bezieht seine Stärke aus den indigenen, ländlichen Kulturen, die Hüter von Wissen, Weisheit, Werten, Spiritualität und Weltanschauungen sind.“ Gemäß Artikel 99 gehört auch die religiöse Vielfalt zum kulturellen Erbe Boliviens.
Artikel 21 (3) gewährt den Bolivianern das Recht auf Glaubens-, Religions- und Kultusfreiheit. Jeder hat das Recht, seinen Glauben als Einzelperson oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat zu bekunden und auszuüben.
Die kulturelle Identität, die religiösen Überzeugungen, die Spiritualität, die Bräuche, Riten und [...] Weltanschauungen indigener Volksgruppen werden durch Artikel 30 (2) ausdrücklich geschützt. Laut Artikel 30 (7 und 9) müssen ihre „heilige Stätten“ und „ihr traditionelles Wissen, ihre Lehren, Sprachen, Rituale und Symbole sowie ihre traditionelle Medizin und Bekleidung wertgeschätzt, respektiert und gefördert“ werden.
Gemäß Artikel 14 (II) untersagt und bestraft der Staat jegliche Form von Diskriminierung aufgrund der Religion. Gemäß Artikel 14 (III) trägt der Staat dafür Sorge, dass die in der Verfassung, in den Gesetzen des Landes und in internationalen Menschenrechtsverträgen zugesicherten Rechte ohne jegliche Diskriminierung frei ausgeübt werden können.
Laut Verfassung darf in Bildungseinrichtungen Religionsunterricht erteilt werden. Gemäß Artikel 86 darf niemand wegen seines Glaubens von Bildungseinrichtungen abgewiesen oder vom Unterricht ausgeschlossen werden. Glaubensgemeinschaften haben das Recht, eigene Bildungsstätten zu betreiben (Artikel 87). Laut Artikel 88 (II) haben Eltern das Recht, selbst über die Bildung ihrer Kinder zu bestimmen.
Weitere Aspekte der Religionsfreiheit sind im Bildungsgesetz vom Dezember 2010 geregelt. In Paragraf 1 (5) wird das Bildungssystem als „einheitlich und öffentlich“ beschrieben. Laut Paragraf 3 (4) unterliegen alle Bildungsstätten unabhängig von ihrer finanziellen Ausstattung und ihrer Trägerschaft denselben Qualitätsanforderungen, Bildungsrichtlinien und grundlegenden Lehrplänen. Gemäß Paragraf 3 (6) ist die Schulbildung „säkular, pluralistisch und spirituell“. Schüler sollen unter Berücksichtigung der Gewissens- und Glaubensfreiheit und der Spiritualität der indigenen Volksgruppen unterrichtet werden. Im Schulunterricht sollen gegenseitiger Respekt, ein friedliches Miteinander der Menschen unterschiedlichen Glaubens und der interreligiöse Dialog undogmatisch gefördert werden.
Das Verfahren zur Anerkennung von Glaubensgemeinschaften ist im Gesetz über die Anerkennung von Juristischen Personen vom März 2013 geregelt, das in Paragraf 3 auf religiöse und spirituelle Organisationen Bezug nimmt.
Bolivien schloss 1986 mit dem Heiligen Stuhl einen Vertrag, in dem die Seelsorge in Einrichtungen des Militärs und der Polizei geregelt ist.
Das im April 2019 verkündete Gesetz Nr. 1161 über Religionsfreiheit, Religiöse Organisationen und Geisterglauben verlangt, dass religiöse oder spirituelle Organisationen sich behördlich registrieren lassen und über ihre rechtlichen, sozialen, finanziellen und religiösen Aktivitäten Bericht erstatten.
Boliviens Parlament hat in mehreren Fällen Vermögen von Kirchen27 und religiöse Feste28 zum materiellen bzw. zum immateriellen Kulturerbe des Landes erklärt.
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
Die Katholische Kirche war im Berichtszeitraum wiederholt das Ziel von Angriffen.
Im August 2021 wurden in der Missionskirche San Javier im Departamento Santa Cruz Heiligenbilder geschändet.
Im Oktober 2021 beschwerte sich der Bischof von El Alto über die widerrechtliche Besetzung eines katholischen TV-Senders.
Im selben Monat beschmierten Aktivistinnen, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzen, unter ihnen die Leiterin der bolivianischen Menschenrechtsbehörde, Nadia Cruz, die Fassade der Geschäftsstelle der bolivianischen Bischofskonferenz in La Paz mit Sprüchen. Sie warfen der Katholischen Kirche vor, ein elfjähriges Mädchen nach einer Vergewaltigung an einer Abtreibung zu hindern. Die Kirche wies die Vorwürfe zurück und erklärte, dass die Minderjährige auf Betreiben einer Kinderschutzorganisation in einer kirchlichen Einrichtung untergebracht wurde.
Beide Parteien wandten sich an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (IACHR). Die Mutter bat, ihre Tochter unter Schutz zu stellen, und die bolivianische Menschenrechtsbehörde verlangte die Durchführung der Abtreibung. Schließlich gab die IACHR das Mädchen in die Obhut der Menschenrechtsbehörde, und die Abtreibung wurde durchgeführt. Die Kommission rief Bolivien dazu auf, Minderjährige gegen erzwungene Schwangerschaft besser zu schützen. Die Vertretung der Vereinten Nationen in Bolivien bezeichnete es als „eine Form von Folter“, Minderjährigen das Recht auf Abtreibung vorzuenthalten.
Im Zusammenhang mit diesem Fall wurden mehrere katholische Kirchen angegriffen, wie unter anderem die Catedral Basílica Menor de San Lorenzo Mártir in Santa Cruz, wo Aktivistinnen die Sonntagsmesse störten. Die Kirchen San Francisco in Santa Cruz, San Roque in der Diözese Tarija, María Auxiliadora in La Paz und Señor de la Exaltación in La Paz wurden mit Sprüchen beschmiert.
Im November 2021 detonierte vor der Geschäftsstelle der bolivianischen Bischofskonferenz in La Paz ein Sprengsatz, der die katholische Kirche mutmaßlich einschüchtern und zum Schweigen bringen sollte.
Einige Vertreterinnen von feministischen Bewegungen wurden beschuldigt, die Angriffe gegen die Katholische Kirche 2021 und 2022 angeführt zu haben. Bei einer Kundgebung zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen im November 2021 wurden katholische Gläubige, die ihre Gemeindekirche María Auxiliadora in La Paz bewachten, von mehreren Frauen verbal und körperlich angegriffen.13
Am Internationalen Frauentag im März 2022 beschmierten Feministinnen die Fassade der Basilika María Auxiliadora und der Gemeindekirche von Cochabamba mit Sprüchen.14 Der Laienrat der Erzdiözese La Paz forderte die Behörden auf, die Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.15
Trotz der Angriffe auf ihre Gläubigen und auf Gebäude nahm die Katholische Kirche eine wichtige Vermittlerrolle ein, als das Land 2019 in einer großen sozialen und politischen Krise versank. Im Juni 2021 veröffentlichte die bolivianische Bischofskonferenz einen Bericht17 über die Bemühungen um Frieden und Dialog im Land.18
Im August 2021 verlangte der Erzbischof von Santa Cruz die Freilassung von Personen, die nach „fragwürdigen rechtlichen Verfahren“ inhaftiert wurden, und forderte, dass das Justizsystem entsprechend den Empfehlungen internationaler Organisationen reformiert wird.19 Während der sozialen Unruhen rief die Kirche im November 2021 zu einem weitreichenden „Waffenstillstand“ innerhalb der Gesellschaft auf.20 Im Februar 2022 äußerte sie sich besorgt über den mangelnden Fortschritt bei der Justizreform.21
Im Februar 2022 schloss die Katholische Kirche mit der Stadt Santa Cruz einen Kooperationsvertrag über den Betrieb von 300 Schulen. Die Stadt sagte zu, für die Infrastruktur und für den Unterhalt der Schulen zu sorgen. Die Kirche wird ihrerseits hohe Bildungsstandards sicherstellen.22
In einem anderen Fall konnten sich Kirchen und Staat nicht einig werden. Die Katholische Kirche und Evangelikale Kirchen hatten die Nationale Statistikbehörde ersucht, bei der Volkszählung 2022 eine Frage zur Religionszugehörigkeit in den Fragebogen aufzunehmen. Dies wurde von der Behörde im Juni 2022 abgelehnt. Zur Begründung hieß es, die Frage der Religionszugehörigkeit sei nicht relevant.23
Im Laufe der Impfkampagne zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie forderten Evangelikale Kirchen im September 2021 die Regierung auf, auf eine allgemeine Impfpflicht zu verzichten, nicht aus religiösen Gründen, sondern weil jeder Mensch selbst entscheiden sollte, ob er sich impfen lässt.24 Im Dezember 2021 wurde ein Covid-19-Impfausweis eingeführt.25 Im Januar 2022 gab das Arbeitsministerium bekannt, dass Arbeitnehmer, die sich aus Gewissensgründen, aus persönlichen Gründen oder aus anderen Motiven nicht haben impfen lassen, einen negativen RT-PCR-Test nachweisen müssen.26
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Im Berichtszeitraum kam es zu zahlreichen Angriffen auf Kirchengebäude, die sich größtenteils dagegen richteten, dass die Katholische Kirche sich für den Schutz des menschlichen Lebens einsetzt. In der politischen und sozialen Krise des Landes wird die Katholische Kirche aber als maßgebliche Vermittlerin weitgehend anerkannt. Im Vergleich zum vorigen Berichtszeitraum hat sich die Lage der Religionsfreiheit in Bolivien verschlechtert und diese Entwicklung scheint sich fortzusetzen.