Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Algerien ist 1989 dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beigetreten und hat das Fakultativprotokoll über Individualbeschwerdeverfahren unterzeichnet. In der Präambel zur Verfassung von 2020 wird Algerien als ein „islamisches Land“ bezeichnet. Der Islam sei ein fester Bestandteil der Identität des Landes, heißt es dort. Artikel 2 der Verfassung erklärt den Islam zur Staatsreligion. Artikel 223.4 untersagt jegliche Verfassungsänderungen, die die Staatsreligion in Frage stellen würden. Laut Artikel 11 der Verfassung ist es staatlichen Institutionen untersagt, den Grundsätzen des Islams zuwiderzuhandeln. Artikel 87 besagt, dass das Präsidentenamt nur mit einer Person muslimischen Glaubens besetzt werden darf. Diese muss sich laut Artikel 90 bei ihrem mit Gottesbezug zu leistendem Amtseid verpflichten, den Islam zu achten und zu verehren. Politischen Parteien ist es untersagt, sich mit einer bestimmten Religion zu identifizieren und die Werte und Bestandteile der nationalen Identität, also unter anderem den Islam, zu untergraben (Artikel 57, Absatz 2). Artikel 51 der Verfassung gewährleistet das Recht auf freie Glaubensausübung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und den staatlichen Schutz von Kult- und Gebetsstätten gegenüber jeglichen politischen oder ideologischen Einflüssen. Bezüglich der Grenzen der Religionsfreiheit heißt es konkreter in der Verordnung Nr. 06-03 vom 28. Februar 2006 (Paragraf 2), bei der Ausübung des Glaubens seien die „Verfassung, die vorliegende Verordnung sowie die geltenden Gesetze und Vorschriften zu beachten und die öffentliche Ordnung, die guten Sitten und die Grundrechte und Grundfreiheiten anderer zu wahren“.
Artikel 54, Absatz 2 der Verfassung gewährleistet die Pressefreiheit, die insbesondere das Recht einschließt, Informationen, Ideen, Bilder und Meinungen im Rahmen des geltenden Rechts und unter Achtung der religiösen, sittlichen und kulturellen Konstanten und Werte der Nation zu verbreiten. Artikel 54, Absatz 3 der Verfassung untersagt die Verbreitung von diskriminierenden Äußerungen und Hetze.
Der sunnitische Islam malikitischer Rechtsschule ist die offizielle Religion des Landes. Mehr als 98 % der Bevölkerung bekennen sich zu dieser Glaubensrichtung. Die rund 1.000 im Land lebenden Ahmadis gelten als Irrgläubige, die von ausländischen Kräften manipuliert werden. Die christliche Minderheit, die knapp 130.000 Gläubige zählt, ist überwiegend in der nördlich gelegenen Region Kabylei ansässig.
Nach amtlichen Angaben sind nahezu alle Christen in Algerien Ausländer. Viele von ihnen stammen aus den Ländern südlich der Sahara. Katholiken und Protestanten sind die größten christlichen Konfessionen. Vor allem in der Region Kabylei gibt es zudem einige evangelikale Gemeinden. Daneben gibt es kleine Gemeinschaften von Bahai (4.091), Buddhisten (6.578) und Anhängern des chinesischen Volksglaubens (14.032) sowie 547.000 Agnostiker im Land. Heute leben nur noch 57 Juden in Algerien. Als das Land 1962 seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangte, zählte es noch etwa 130.000 Bewohner jüdischen Glaubens. Dann wurde 1963 das Staatsangehörigkeitsgesetz erlassen, in dessen Folge Nichtmuslimen die algerische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde und die meisten von ihnen ins Ausland flüchteten.
Alle Glaubensgemeinschaften müssen sich beim Innenministerium registrieren lassen, bevor sie in Algerien tätig werden. Gläubige dürfen sich nur an staatlich genehmigten Orten versammeln. Gemäß der Verordnung Nr. 06-03 aus dem Jahr 2006 müssen alle nichtmuslimischen Kult- und Gebetsstätten eine staatliche Zulassung vorweisen (Paragraf 5, Absatz 1), die aber normalerweise nicht erteilt wird. Daher bewegen sich christliche Kirchen gezwungenermaßen im Bereich der Illegalität und müssen jederzeit mit staatlichen Eingriffen und Schließungen rechnen. Gottesdienste dürfen nur in zugelassenen Gebäuden stattfinden, die für diese Zwecke bestimmt sind. Diese müssen öffentlich zugänglich und von außen als Kult- und Gebetsstätten erkennbar sein. Religiöse Veranstaltungen müssen öffentlich sein, vorher angekündigt werden und dürfen nur in dafür zugelassenen Gebäuden stattfinden (Paragraf 7 und 8).
Verstöße gegen die vorgenannten Vorschriften können laut Paragraf 13 der Verordnung Gefängnisstrafen von ein bis drei Jahren und Geldstrafen von 100.000 bis 300.000 algerischen Dinar (etwa 680 bis 2.050 Euro) nach sich ziehen. Ausländer, die gegen die genannte Verordnung verstoßen, können auf unbestimmte Zeit oder für mindestens zehn Jahre des Landes verwiesen werden (Paragraf 14).
Wer Personen wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Weltanschauung oder ihrer Religion beleidigt, kann mit einer Gefängnisstrafe in Höhe von einem bis zwölf Monaten und einer Geldstrafe in Höhe von 10.000 bis 100.000 Dinar (68 bis 680 Euro) bestraft werden. Wer andere gegeneinander aufhetzt, muss mit einer Gefängnisstrafe von fünf Tagen bis sechs Monaten und/oder mit einer Geldstrafe von 5.000 bis 50.000 Dinar (34 bis 340 Euro) rechnen (Paragraf 298 Strafgesetzbuch). Gemäß Paragraf 144, Absatz 2 des Strafgesetzbuches muss derjenige, der in Schrift, Kunst, Rede oder in jeder anderen Form den Propheten oder die Gesandten Gottes beleidigt oder die Lehre bzw. die Regeln des Islams verunglimpft, mit einer Freiheitsstrafe von drei bis fünf Jahren und/oder einer Geldstrafe von 50.000 bis 100.000 Dinar (340 bis 680 Euro) rechnen. Das Missionieren von Muslimen durch Nichtmuslime ist ebenfalls eine Straftat. Laut Paragraf 11 der Verordnung Nr. 06-03 gilt dies für jede Person, die „einen Muslim anregt, nötigt oder dazu verführt, zu einer anderen Religion überzutreten, oder Lehr-, Bildungs-, Gesundheitseinrichtungen, soziale oder kulturelle Einrichtungen, Ausbildungsstätten, sonstige Einrichtungen oder finanzielle Mittel zu diesem Zweck nutzt“. Bei Verstößen ist mit einer Gefängnisstrafe von zwei bis fünf Jahren und einer Geldstrafe von 500.000 bis einer Million Dinar (3.400 bis 6.800 Euro) zu rechnen. Dieselben Strafen gelten für die „Produktion, Speicherung oder Verbreitung von Schriften, audiovisuellen Medien oder sonstigen Medien, die darauf ausgerichtet sind, den Glauben eines Muslims zu erschüttern“.
Das Sammeln oder die Annahme von Spenden ohne Genehmigung der zuständigen Behörde kann laut Paragraf 12 der Verordnung Nr. 06-03 mit einer Gefängnisstrafe in Höhe von einem bis drei Jahren und einer Geldstrafe in Höhe von 100.000 bis 300.000 Dinar (680 bis 2.040 Euro) bestraft werden. Dieses Verbot wurde in der Vergangenheit auf nichtmuslimische Gemeinschaften und Gläubige angewendet. Institutionen, die gegen diese Vorschriften verstoßen, müssen mit einer Geldstrafe, einer Beschlagnahme von Vermögen, einem Tätigkeitsverbot oder mit ihrer Auflösung rechnen (Paragraf 15).
Gemäß dem algerischen Familienrecht darf ein muslimischer Mann eine andersgläubige Frau heiraten, sofern sie einer monotheistischen Religion angehört. Eine muslimische Frau darf keinen andersgläubigen Mann heiraten, es sei denn, der Mann tritt zum Islam über. Gemäß der Scharia ist es für einen Mann zulässig, mehrere Frauen zu heiraten (Paragraf 8, Absatz 1). Die Kinder eines muslimischen Vaters gelten unabhängig vom Glauben der Mutter als Muslime. Im Falle der Scheidung gewährleistet die Person, der das Sorgerecht („Hadana“) zugesprochen wird, die Erziehung des Kindes gemäß dem Glauben des Vaters (Paragraf 62). Die Adoption von Kindern („Tabanni“) ist durch die Scharia und nach dem algerischen Familienrecht (Paragraf 46) verboten. Nur Muslime sind berechtigt, Kindern „Kafala“ zu gewähren (Paragraf 118). Das bedeutet, dass eine erwachsene Person sich freiwillig aus Mildtätigkeit zur Unterstützung, zur Erziehung und zum Schutz eines minderjährigen Kindes verpflichtet, so wie es Eltern für ihr eigenes Kind tun würden. Das unterstützte Kind behält seinen eigenen Familiennamen und ist nicht automatisch erbberechtigt. Ein minderjähriges Kind kann von seinem Vater oder Großvater in die Obhut eines durch Testament eingesetzten Vormunds (muslimischen Glaubens) gegeben werden, wenn es keine Mutter hat oder wenn die Mutter laut gerichtlicher Feststellung nicht in der Lage ist, das Kind zu erziehen (Paragraf 93). Gemäß Paragraf 28, Zivilgesetzbuch müssen muslimische Eltern ihren Kindern einen „algerisch klingenden Vornamen“ geben. Paragraf 1, Absatz 2, Zivilgesetzbuch sieht vor, dass bei Lücken in der Gesetzgebung die Grundsätze des islamischen Rechts maßgeblich sind.
Vorfälle und aktuelle Entwicklungen
Die autoritäre Ausrichtung der gegenwärtigen Regierung hat zu einer Verschärfung der Feindseligkeiten gegen religiöse Minderheiten geführt. Im November 2021 setzte die US-Kommission für internationale Religionsfreiheit Algerien auf die Beobachtungsliste (Special Watch List), weil die algerische Regierung selbst die Religionsfreiheit erheblich missachtete oder die Einschränkung der Religionsfreiheit zumindest duldete. Gleiches galt für 2022. Die in Algerien praktizierte Verfolgung von religiösen Minderheiten wird durch das Strafgesetzbuch und durch die Verordnung Nr. 06-03 gestützt. Sie räumt der algerischen Regierung weitreichende Befugnisse ein und ermöglicht ein scharfes Durchgreifen gegen Christen und andere religiöse Minderheiten. Muslime, die zum Christentum übertreten wollen, müssen mit sozialem Druck und mit Nachteilen in Erbschaftsangelegenheiten rechnen. Den Vertretern christlicher Kirchen wird systematisch die Einreise in das Land verweigert. Zudem gelten strenge Vorschriften für die Einfuhr von christlichen Schriften.
Algerische Behörden hindern christliche Kirchen daran, ihren Aktivitäten nachzugehen, und schikanieren Anhänger der islamischen Gemeinschaft der Ahmadiyya. So kommt es nicht selten vor, dass Anträge für den Bau oder die Renovierung christlicher Kirchen „aus rechtlichen Gründen“ oder „wegen Ausübung einer unerlaubten nichtmuslimischen Religion“ abgelehnt werden, selbst wenn die Anforderungen der Verordnung Nr. 06-03 über die Kontrolle nichtmuslimischer Glaubensgemeinschaften erfüllt sind.
Eine historische Kirche in der Hafenstadt Mostaganem wurde an die Protestantische Kirche zurückgegeben, aber 20 weitere Kirchen mussten ihre Aktivitäten einstellen und 13 wurden komplett geschlossen. Landesweit wurden 16 protestantische Kirchen der Église Protestante d’Algérie (EPA) geschlossen, darunter auch eine historische Kirche in Oran, die seit 1920 bestand. Hinzu kommt eine bewusste Blockadehaltung der Exekutive, die darauf ausgerichtet ist, die Vollstreckung von Gerichtsurteilen zugunsten von religiösen Minderheiten zu verhindern. Die algerischen Behörden begründen die Schließung von Kirchen üblicherweise damit, dass sie mit den Maßnahmen die Missionierung und Evangelisierung verhindern wollen. Im November 2021 wurden der EPA-Vorsitzende Salaheddin Chalah und vier weitere protestantische Christen beschuldigt, einen unerlaubten Gottesdienst gefeiert zu haben. Berichten zufolge wurde Pastor Chalah im März 2022 zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Die anderen Beschuldigten erhielten sechsmonatige Gefängnisstrafen. Zwölf Christen, darunter drei Frauen und ein französischer Gastredner, wurden am 12. Dezember 2021 wegen der „unerlaubten Feier eines nichtmuslimischen Gottesdienstes“ festgenommen. Der französische Gast zahlte die gegen ihn verhängte Geldstrafe und wurde des Landes verwiesen, während die übrigen elf Beschuldigten jeweils zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung und zu einer Geldstrafe von 200.000 Dinar (1.360 Euro) verurteilt wurden. In einem Berufungsverfahren am 28. April 2022 wurde die auf Bewährung verhängte Freiheitsstrafe bestätigt und die Geldstrafe auf 100.000 Dinar (680 Euro) herabgesetzt.
Eine sorglose Feier des Weihnachtsfestes ist in Algerien nicht möglich, weil es von islamischen Fundamentalisten als verwerflich und kulturfremd angesehen wird. Zum Beispiel wurde der Direktor des staatlichen Radiosenders Constantine entlassen, nachdem das Weihnachtslied „Ayed ellayl“ („Stille Nacht“) von der bekannten Sängerin Fayrouz gesendet worden war.
Wenn Christen im Fastenmonat Ramadan tagsüber ein Restaurant besuchen, laufen sie Gefahr, wegen „Verstoßes gegen die islamischen Fastenregeln“ von der Polizei bedrängt zu werden. Während der Covid-19-Pandemie trat das diskriminierende Vorgehen noch deutlicher zutage, denn für christliche Kirchen galten in der Zeit schärfere Regeln als für Moscheen. Zu Beginn der Pandemie ordneten die Behörden die Schließung aller Gebets- und Kultstätten an. Nach und nach durften dann Moscheen und auch katholische Kirchen wieder öffnen. Die protestantischen Kirchen mussten geschlossen bleiben.
Im Juli 2021 äußerten sich Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen tief besorgt über die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, denen Gläubige der muslimischen Gemeinschaft der Ahmadiyya weltweit, auch in Algerien, ausgesetzt sind und die wenig Beachtung finden. Am 6. Juni 2022 wurden 18 Personen, die als Ahmadi identifiziert wurden, vor einem Gericht erster Instanz in Bejaia gemäß Paragraf 46 des Gesetzes über Vereinigungen und Paragraf 144, Absatz 2 des Strafgesetzbuches beschuldigt, Mitglied einer unerlaubten Vereinigung zu sein und den Islam zu verunglimpfen. Drei Anhänger der Glaubensgemeinschaft (Redouane Foufa, Cherif Mohamed Ali und Khireddine Ahman) wurden jeweils zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt, die übrigen Beschuldigten jeweils zu sechs Monaten Freiheitsstrafe und Geldstrafen. In einem Berufungsverfahren wurden die 18 Personen entlastet und freigesprochen.
Religiöse Minderheiten werden in Algerien unverhältnismäßig häufig beschuldigt, gegen das geltende Blasphemie Verbot zu verstoßen. Ein Richter in Oran bestätigte am 22. März 2021 den Schuldspruch gegen den Christen Hamid Soudad, der zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, weil er 2018 auf seinem Facebook Account eine Karikatur des Propheten gepostet hatte. Der bekannte Islamexperte Saïd Djabelkhir wurde im April 2021 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in Kommentaren auf Facebook den Islam „beleidigt“ haben soll. In einem Berufungsverfahren wurde er am 1. Februar 2023 freigesprochen. Eine nicht näher bezeichnete 33-jährige Person wurde im Mai 2021 von einer Einheit zur Bekämpfung von Cyberkriminalität der nordalgerischen Provinz Boumerdès festgenommen, weil sie in den sozialen Medien „Fälschungen von Koranversen und des Hadith“ veröffentlicht hatte. Slimane Bouhafs wurde 2018 nach fast zwei Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Er war wegen Verstoßes gegen die algerischen Blasphemie Gesetze zu der Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Oktober 2018 flüchtete er nach Tunesien, wo er Asyl erhielt. Per Telefon und über die sozialen Medien erhielt er dennoch weiter Todesdrohungen. Im August 2021 wurde er aus Tunesien entführt und nach Algerien gebracht, wo er wegen Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ und „Gefährdung der nationalen Einheit“ nochmals zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Die französisch-algerische Ärztin, Journalistin und Aktivistin Amira Bouraoui wurde wegen Verstoßes gegen die „Regeln des Islams und Beleidigung des Propheten“ zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nachdem sie einige Monate im Gefängnis verbracht hatte, wurde sie entlassen und konnte nach Frankreich zurückkehren.
Am 6. Juni 2021 verhängte ein Berufungsgericht gegen den Pastor Rachid Seighir und den Buchhändler Mouh Hamimi eine einjährige Freiheitsstrafe auf Bewährung und eine Geldstrafe in Höhe von 200.000 Dinar (1.360 Euro), weil sie sich schuldig gemacht haben sollen, in einem Buchladen in Oran den Glauben von Muslimen mit christlicher Literatur zu erschüttern. Der Christ Mohammed Derrab wurde im Januar 2022 in Tizi-Ouzou von der algerischen Polizei festgenommen, nachdem er auf der Straße gepredigt und einer anderen Person eine Bibel angeboten haben soll. Bei einer Hausdurchsuchung wurden Bibeln beschlagnahmt und er wurde zu 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Im Juli 2021 wurde Foudhil Bahloul, der zum Christentum konvertiert war, in der Stadt Ain Defla zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung und einer Geldstrafe von 100.000 Dinar (680 Euro) verurteilt, weil ein Freund aus Deutschland ihm 200 Euro auf sein Konto überwiesen hatte. Die Überweisung wurde als „unerlaubte Spende“ gewertet. Ihm wurde offiziell vorgeworfen, Bibeln in Umlauf gebracht zu haben, um „unter arbeitslosen Jugendlichen gefährliches Gedankengut zu verbreiten“. Im Dezember 2021 wurde sein Berufungsantrag abgelehnt und das Urteil gegen ihn damit bestätigt. Am 26. September 2022 erhielten die Mitglieder des 1989 gegründeten Kulturvereins Azday Adelsan die Nachricht, dass ihr Verein aufgelöst werden soll, weil er gegen das Vereinsrecht verstoßen habe und mit der Verbreitung von CDs und Schriften in den Orten Aokas und Tizi N'Berber gesetzwidrig für das Christentum geworben habe. Am 1. Oktober 2022 stellte die christliche Hilfsorganisation Caritas Algeria auf Druck der algerischen Behörden ihren Betrieb ein.
Die zunehmende Islamisierung des öffentlichen Lebens und wachsende Intoleranz gegenüber religiösen Minderheiten in Algerien sind beunruhigende Entwicklungen. Der Vorsitzende des Hohen Islamischen Rates und ehemalige Minister für religiöse Angelegenheiten, Bouabdellah Ghlamallah, löste in den sozialen Medien Diskussionen aus, als er am 5. Mai 2021 in einer Rede anlässlich des 90. Jahrestags der Gründung des Verbands der algerischen Ulemas (1931 unter französischer Kolonialherrschaft gegründet) sagte: „Der Algerier kann nur Muslim sein“ und „Islam und Nationalismus sind zwei Seiten einer Medaille“. Seit Algerien 1962 seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangte, hatte im öffentlichen Fernsehen ein Kopftuchverbot gegolten. Am Morgen des 15. Februar 2022 wurden die Nachrichten im staatlichen Fernsehen erstmals wieder von einer Frau mit Hidschab präsentiert. Die Rundfunkaufsichtsbehörde ARAV verhängte über den TV-Sender „Al Adjwaa“ ein dauerhaftes Sendeverbot, nachdem dort an einem Sonntagabend „anstößige Szenen“ zu sehen waren, die „den Werten unserer Gesellschaft und Religion widersprechen“. Über die Lautsprecher der Moschee äußerte sich ein Imam beleidigend über die Besucher eines Konzerts und beschimpfte sie als „Abschaum“ und „Gottlose“. Wahrscheinlich aus religiöser Intoleranz wurde im Dezember 2022 die berühmte Statue einer nackten Frau von der Brunnenanlage Ain El Fouara im Zentrum der Stadt Sétif beschädigt. Der Minister für Handel und Exportförderung, Kamel Rezig, startete im Januar 2023 in Algier eine landesweite Kampagne, um auf Produkte wie Spielwaren, Schulmaterialien, Kleidung und sogar Koranausgaben aufmerksam zu machen, deren „Farben und Symbole den religiösen und sittlichen Werten der algerischen Gesellschaft unzuträglich“ sind, und um die „sittlichen Interessen der algerischen Verbraucher zu schützen“. Im Zuge der Kampagne wurden 2022 insgesamt 38.542 Produkte wie Schulmaterialien und Spielwaren beschlagnahmt und zerstört. Darüber hinaus auch 4.561 Exemplare des Koran, die in „nichtreligiösen Farben“ gedruckt waren. Die Zahl der geistlichen Leiterinnen im Islam, der sogenannten Murschidas, stieg im Zeitraum von 2002 bis 2022 von 200 mehr als 1.500. Die algerische Verwaltungsstelle für religiöse Angelegenheiten beaufsichtigt 14 Schulungseinrichtungen für Imame und geistliche Leiterinnen. Daneben gibt es eine staatliche Schule. Nach dem Vorbild Marokkos soll nun auch in Niger ein neues Institut speziell für die Ausbildung von Imamen, geistlichen Leitern Leiterinnen („Murschidas“) entstehen, das von spezialisierten algerischen Lehrkräften beaufsichtigt wird.
Gemäß einem Vertrag, den das algerische Ministerium für Religiöse Angelegenheiten mit der Pariser Moschee geschlossen hat, werden künftig alle französischen Produkte, die von Algerien importiert werden, Halal-zertifiziert sein. Algerien entsendet jedes Jahr 120 Imame nach Frankreich, wo sie verschiedenen Moscheen zugewiesen werden. Zudem finanziert Algerien die Pariser Moschee, die die bedeutendste Moschee Frankreichs ist.
Die Christen in der Region Kabylei werden Berichten zufolge massiv verfolgt. Kult- und Gebetsstätten wurden geschlossen, Geistliche wurden von der Polizei vorgeladen, schikaniert und wegen Missionierung oder unerlaubter Ausübung eines anderen Glaubens als dem Islam angeklagt. Oppositionelle Gruppen werfen den Behörden vor, dass sie zur Arabisierung der kabylischen Dörfer nicht weniger als 100 Imame in die Region entsendet haben, damit sie dort Arabisch- und Koranunterricht erteilen. In Anbetracht der wachsenden Unzufriedenheit der algerischen Bevölkerung, der neuen Verfassung und der diktatorischen Tendenzen der Regierung ist zu erwarten, dass Christen und Ahmadi künftig noch stärker unter Intoleranz und Diskriminierung leiden werden. Diesen Entwicklungen zum Trotz und zur Förderung des Dialogs zwischen Muslimen und Christen veranstaltete die Basilika Unserer Lieben Frau von Afrika in Algier am 7. Mai 2022 im Rahmen der 150-Jahr-Feier der Kirche zum siebenten Mal das bekannte muslimisch-christliche Marienfest.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
In Anbetracht der immer strenger werdenden gesetzlichen Verbote und der Beschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung ist Religionsfreiheit in Algerien praktisch nicht mehr gegeben. Interreligiöser Dialog findet nur noch in Ausnahmefällen statt. Die Menschenrechte scheinen nach den Regeln der Regierung und infolge des sozialen Drucks nur für die Bürger muslimischen Glaubens zu gelten. Die unverhohlene „Arabisierung“ der kabylischen Gebiete und die Schließung des päpstlichen Hilfswerks Caritas Algeria verdeutlichen, dass es die Religionsfreiheit in Algerien künftig schwer haben wird, so dass die Lage weiter beobachtet werden muss.