Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Jüngsten Schätzungen zufolge machen sunnitische Muslime zwischen 85 % und 89 % der afghanischen Bevölkerung aus. Der Rest sind zumeist Schiiten (10 bis 15 %), darunter vor allem Mitglieder der ethnischen Gruppe der Hazara. Die Verfassung des Landes erkennt offiziell 14 Ethnien an, darunter Paschtunen, Tadschiken, Hazara und andere. Die Paschtunen machen mit ungefähr 42 % der Bevölkerung die größte Gruppe aus, gefolgt von den Tadschiken mit ungefähr 27 %, den Hazara mit 9 %, den Usbeken mit 9 %, den Turkmenen mit 3 % und den Belutschen mit 2 %. Andere Bevölkerungsgruppen machen zusammen etwa 8 % aus.
Mehr als 20 Jahre nach ihrem Sturz sind in Afghanistan die Taliban wieder an der Macht. Die damit verbundene Errichtung eines Islamischen Emirats hat den rechtlichen Rahmen des Landes völlig verändert. So ist die 2004 verabschiedete Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan nicht mehr in Kraft. Über den aktuellen Rechtsrahmen besteht große Unklarheit. Hier bleibt im Grunde nur, sich an den Erklärungen der neuen Machthaber zu orientieren.
Wenige Wochen nach dem Fall von Kabul verkündete ein Sprecher der Taliban, dass das Emirat als politisches System des Landes wiederhergestellt und damit der Republik ein Ende gesetzt sei. Als Staatsoberhaupt (Amir ul-Muminin, „Befehlshaber der Gläubigen“) wurde Hibatullah Achundsada eingesetzt. Die Führung kündigte außerdem an, dass eine provisorische Regierung, die ausschließlich aus Taliban-Mitgliedern besteht und von einem Premierminister geleitet wird, die Angelegenheiten des Landes regeln wird. Über die institutionelle Struktur des Emirats ist jedoch nur wenig bekannt.
Bereits in der Zeit des ersten Emirats von 1996-2001 hatte ein Ulema-Rat eine Verfassung erarbeitet, in der die Regierungsform formalisiert werden sollte. Das Dokument, das sich weitgehend auf die 1964 verabschiedete Verfassung stützte, wurde jedoch nie umgesetzt. Im September 2021 erklärten die Taliban, eben jenes Verfassungsdokument provisorisch zu nutzen.
Die Ankündigung erfolgte nach einem Treffen zwischen dem amtierenden Justizminister der Taliban, Abdul Hakim Sharie, und dem chinesischen Botschafter in Kabul. Sharie sagte, zur Regierung des Landes werde das Islamische Emirat die königliche Verfassung vorübergehend übernehmen, sofern sie „nicht im Widerspruch zur Scharia“ stehe.
In der Praxis findet die Verfassung von 1964 jedoch keine konsequente Anwendung. Das Dokument sah ursprünglich eine konstitutionelle Monarchie mit Wahlen und Gewaltenteilung sowie eine Gesetzesvorlage zur Begrenzung der staatlichen Macht vor – Elemente, die von den Taliban stets abgelehnt wurden. Seit August 2021 werden wichtige Ernennungen und Dekrete im Verwaltungs-, Gesetzgebungs- und Justizbereich eigenmächtig und ohne jegliche Gewaltenteilung durch den Emir erlassen.
In seinem jüngsten Bericht über Afghanistan, der am 16. Dezember 2022 veröffentlicht wurde, erklärte UN-Generalsekretär Antonio Guterres, dass das Land „seinen Verpflichtungen gegenüber internationalen Prinzipien, Normen und Standards gegen Diskriminierung, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Straflosigkeit nachkommen“ müsse. Bislang hat sich das De-facto-Regime noch nicht mit den anhaltenden Unklarheiten im Hinblick auf das politische und rechtliche System befasst, obwohl Taliban-Sprecher Zabiullah Mudschahid im Oktober 2022 erklärte, dass „die Bemühungen zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung im Gange“ seien.
Trotz der Versprechen, die nach der Einnahme von Kabul gemacht wurden, sind Frauen und Minderheiten bzw. andere Ethnien in der Taliban-Regierung praktisch nicht repräsentiert.
Im Mai 2022 veröffentlichten die Taliban ein Manifest, das die die beiden grundlegenden Fragen klären soll, was ein Islamisches Emirat ist und wie es geordnet wird. Verfasser des Manifests ist der amtierende Justizminister der Taliban, Abdul Hakim Sharie. Er definiert drei konstitutive Elemente eines von den Taliban geführten Staates: 1) unabhängige Justiz; 2) islamische Armee; 3) göttliches Gesetz. Darüber hinaus warnt Sharie in dem Dokument, dass ein islamischer Staat ohne die Umsetzung der Gesetze des Korans und der Sunna keinen Erfolg haben wird.
Als Schule der islamischen Rechtsprechung legt Sharie in dem Dokument die von der Mehrheit getragene Hanafi-Schule fest. Dies stellt einen Rückschritt gegenüber der Verfassung von 2004 dar. Diese hatte – erstmalig in der Geschichte des Landes – die schiitische Ja‘fari-Rechtsprechung in begrenztem Maße anerkannt.
Die schiitische Minderheit macht etwa ein Sechstel der afghanischen Bevölkerung aus. Der schiitische Ulema Council of Afghanistan (Ulema-Rat Afghanistans) hat öffentlich gefordert, dass Schiiten von der Zahlung einer nach hanafitischer Rechtsprechung erhobenen Steuer auf landwirtschaftliche Erzeugnisse („ushr“) befreit werden. Für ein Entgegenkommen oder eine Ausnahme für schiitische Muslime gibt es jedoch keine Anzeichen.
Berichten zufolge wurde in der mehrheitlich schiitischen afghanischen Provinz Bamiyan die Ja‘fari-Rechtswissenschaft auf Veranlassung der Taliban-Behörden vom Lehrplan der Universitäten gestrichen.
Ordentliche Gerichtsverfahren spielen im juristischen Denken der Taliban keine Rolle. Viele Vorschriften werden durch Erlasse festgelegt, die denjenigen, die sie anwenden sollen, oft nicht richtig mitgeteilt werden. In einigen Fällen reicht die Erklärung eines Anführers aus, damit eine Verfügung wirksam wird. Darüber hinaus werden nur wenige Fälle tatsächlich vor Gericht verhandelt. Welche Strafen verhängt werden, liegt meist im Ermessen von Taliban-Kämpfern und lokalen Befehlshabern. Personen, die eines Verbrechens beschuldigt werden, werden oft an Ort und Stelle oder nach einem kurzen Prozess bestraft. Die Strafen reichen von öffentlicher Demütigung bis hin zu körperlicher Züchtigung und in den schwersten Fällen bis zum Tod.
Das „Ministerium für Gebet und Führung und die Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern“ (MPVPV) erlässt die meisten Richtlinien. Die Behörde, die für ihre harten Polizeimethoden berüchtigt ist, war im Jahr 2001 aufgelöst worden und wurde im September 2021 wiedereingerichtet.
Unter den restriktiven Vorschriften leidet vor allem die weibliche Bevölkerung. De facto wurde etwa die Sekundarschulbildung für Mädchen durch die Taliban-Führung verboten: So erklärten die Taliban im März 2022, dass die weiterführenden Schulen für Mädchen geschlossen bleiben, bis angemessene islamische und kulturelle Bedingungen für Schülerinnen ab zwölf Jahren geschaffen wurden. Außerdem erließen die Taliban eine Reihe von Dekreten, die die Bewegungsfreiheit, die Kleidung, die sportliche Betätigung, das Recht auf Arbeit und die Gesundheitsversorgung von Frauen einschränken. Die Lage der Frauen ist so schlecht, dass der Global Gender Gap Report 2022 des Weltwirtschaftsforums Afghanistan auf Platz 146 von 146 einordnet.
Auch Musik ist unter den Taliban verboten. Taliban-Sprecher Zabiullah Mudschahid erklärte: „Musik ist im Islam verboten ... aber wir hoffen, dass wir die Menschen davon überzeugen können, diese Dinge nicht zu tun, anstatt sie unter Druck zu setzen.“ Tatsächlich leisten die Taliban aber keine Überzeugungsarbeit, sondern nehmen Musiker und Künstler – und sogar Personen, die im Auto Musik hören – ins Visier.
Auf Verbrechen wie Apostasie (Glaubensabfall bzw. Religionswechsel) und Blasphemie steht in Afghanistan nach wie vor die Todesstrafe. Darüber hinaus führten die Taliban die körperliche Züchtigung bei geringfügigen Vergehen wieder ein. Diebstahl kann seit der Machtübernahme mit der Amputation von Gliedmaßen geahndet werden. Nooruddin Turabi, einer der Gründer der Taliban, erklärte, dass das Abschneiden von Händen „für die Sicherheit sehr wichtig“ sei.
Die Taliban haben sehr wenig getan, um religiöse Minderheiten einzubeziehen, ihre Rechte zu wahren oder sie vor den zahlreichen Angriffen durch Gruppen wie den „Islamischer Staat in der Provinz Khorasan“ (IS-Khorasan) zu schützen. Dennoch weisen sie es weit von sich, als Unterdrücker bezeichnet zu werden.
Am 5. Juni 2022 twitterte Taliban-Sprecher Zabiullah Mudschahid als Reaktion auf einen Bericht der Kommission der Vereinigten Staaten für internationale Religionsfreiheit (United States Commission on International Religious Freedom, USCIRF): „Die religiösen und bürgerlichen Rechte aller Minderheiten in Afghanistan sind geschützt. Der Bericht des US-Außenministeriums ist in dieser Hinsicht unvollständig und basiert auf falschen Informationen. Alle Sunniten, Schiiten, Sikhs und Hindus in Afghanistan können ihre Religion frei ausüben. Die im Bericht erhobenen Vorwürfe weisen wir zurück.“ Interessanterweise finden Christen hier keine Erwähnung. Nach Aussage eines Taliban-Sprechers „gibt es keine Christen in Afghanistan. [Eine] christliche Minderheit war hier nie bekannt oder registriert.“
Im Jahr 2022 strich die Taliban-Regierung das (schiitische) Aschura- und das Nouruz-Fest als nationale Feiertage aus dem afghanischen Kalender. Den Minderheitengemeinschaften ist allerdings weiter gestattet, ihre Feiertage öffentlich zu begehen.
Die schiitischen Hazara waren schon unter dem alten und sind auch unter dem neuen Taliban-Regime die am stärksten verfolgte Minderheit. Nach den Paschtunen und Tadschiken bilden sie die drittgrößte ethnische Gruppe Afghanistans. Im Berichtszeitraum wurden sie Opfer zahlreicher Angriffe sowohl durch die Taliban als auch durch den IS-Khorasan.
Auch Sufi-Muslime wurden im Berichtszeitraum wiederholt angegriffen. Ihre Gemeinschaft hat in Afghanistan jahrhundertelang eine wichtige spirituelle Rolle gespielt, doch stehen ihre religiösen Ansichten heute in scharfem Gegensatz zu denen der Taliban und des IS-Khorasan.
Im Mai 2022 forderte Richard Bennett, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Menschenrechte in Afghanistan, nach einem Besuch im Land eine Untersuchung der Angriffe auf die Gemeinschaften der Hazara, Schiiten und Sufi. Er stellte fest, dass diese Angriffe „immer systematischer werden, Elemente einer Organisationspolitik widerspiegeln und daher als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu charakterisieren sind.“
Die Situation der bereits unter dem vorherigen Taliban-Regime verfolgten Anhänger der Ahmadiyya-Bewegung hat sich nicht verbessert. Ahmadis gelten in Afghanistan inzwischen als Häretiker und Nicht-Muslime. Vor August 2021 lebten schätzungsweise 450 von ihnen in Afghanistan. Einige wurden angeblich von den Taliban gefangen genommen. Das International Human Rights Committee (Internationales Menschenrechtskomitee, IHRC) berichtete, dass sich mindestens 13 Ahmadiyya-Muslime, die während des islamischen Opferfestes im Jahr 2022 festgenommen wurden, weiter in Haft befinden.
Die meisten nicht-muslimischen Afghanen flohen bereits während der Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001 außer Landes. Einige wenige verblieben jedoch in Afghanistan und sind nun von Verfolgung bedroht. Hier sind insbesondere Bahai, Buddhisten, Parsen und Christen zu nennen.
Das Christentum wird als westliche Religion angesehen, die der afghanischen Gesellschaft fremd ist. So berichteten Christen schon vor der Machtergreifung der Taliban von einer extremen Feindseligkeit in Medien und Öffentlichkeit. Unter afghanischen Christen ist es daher schon seit Langem üblich, allein oder in kleinen Gruppen in Privathäusern zu beten. Dennoch hatten sich im Jahr 2019 etliche von ihnen entschieden, ihren Glauben in den Ausweispapieren eintragen zu lassen, damit ihre Nachkommen ihre Existenz als Christen nicht verbergen müssten. Bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban hatten insgesamt etwa 30 Christen diesen Schritt vollzogen.
Nach hundert Jahren hat die katholische Gemeinschaft keinerlei Präsenz mehr in Afghanistan. Pater Giovanni Scalese, Leiter der Mission sui iuris in Afghanistan, die seit 1921 im Land tätig war, musste am 26. August 2021 nach Italien zurückkehren. Mit ihm verließen auch sechs Ordensfrauen das Land. Eine von ihnen sagte über ihre letzten Tage in Afghanistan: „Es war eine sehr schwierige Zeit, wir waren in unseren Häusern eingeschlossen und wir hatten Angst.“ Zu dieser Zeit war Pater Scalese der einzige katholische Priester, der sich noch in Afghanistan aufhielt.
Nach Angaben des Rats der afghanischen Sikh und Hindus ist die Mitgliederzahl ihrer Gemeinschaft von rund 900 im Jahr 2018 auf rund 550 im Jahr 2020 zurückgegangen. Tempel der Sikh wurden schon vor der Rückkehr der Taliban angegriffen. Als die Taliban im August 2021 auf Kabul vorrückten, suchten einige Hindus und Sikhs Zuflucht in einem Sikh-Tempel in der Hauptstadt, während andere versuchten zu fliehen, insbesondere nach Indien, dessen Regierung Sikhs und Hindus bei der Ausreise aus Afghanistan half.
Im Oktober 2021 lebten Schätzungen zufolge nur noch weniger als 250 Hindus und Sikhs im Land. Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) erhielt Berichte, wonach bewaffnete Behördenvertreter kurz nach der Machtübernahme durch die Taliban den Sikh-Gurdwara-Schrein in Karte Parwan, einem Stadtteil von Kabul, aufsuchten und die dortigen Sikhs und Hindus aufforderten, Afghanistan nicht zu verlassen.
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren fast alle afghanischen Juden aus Sicherheitsgründen nach Israel ausgewandert. Der vermutlich letzte im Land verbliebene Jude, Zebulon Simentov, versuchte nach der Machtübernahme durch die Taliban zunächst, zu bleiben. Im September 2021 verließ jedoch auch er Kabul.
Über die Gemeinschaft der Bahai in Afghanistan gibt es nur wenige Informationen. Seitdem die Generaldirektion für Fatwas und Finanzen des Obersten Gerichtshofs von Afghanistan 2007 den Bahai-Glauben für blasphemisch und seine Anhänger zu Ungläubigen erklärte, lebt die Gemeinschaft in relativer Anonymität.
Uigurische Muslime sind mit einer Anhängerzahl von 2000 bis 3000 Personen ebenfalls eine bedrohte Minderheit. Die Taliban pflegen enge Beziehungen zu China, dem nach eigenen Aussagen „wichtigsten Partner“ beim Wiederaufbau des Landes. Die Uiguren müssen damit nicht nur um ihr Leben in Afghanistan fürchten, sondern sind auch von Zwangsumsiedlung und Verfolgung in China bedroht.
Vorfälle und Entwicklungen
Die Situation in Afghanistan hat sich im Berichtszeitraum radikal verändert. Die Machtübernahme durch die Taliban hat gravierende Folgen für die Menschenrechte, insbesondere die Rechte (und die Religionsfreiheit) von Minderheiten.
Am 20. Juli 2022 veröffentlichte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) einen Bericht, der die Menschenrechtssituation im Land in den ersten zehn Monaten seit der Machtübernahme der Taliban beschreibt.
Die Gruppe IS-Khorasan nahm gezielt ethnische und religiöse Minderheiten ins Visier und griff sie in Schulen, Gebetsstätten und Orten des täglichen Lebens an. Diese und weitere Vorfälle haben laut UNAMA bislang 2.106 zivile Todesopfer gefordert.
Besonders besorgt äußerte sich die Hilfsmission über die Straffreiheit, mit der Mitglieder der neuen Behörden Menschenrechtsverletzungen zu begehen scheinen. In dem Bericht werden grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafungen und außergerichtliche Hinrichtungen von Personen, die „moralischer“ Verbrechen beschuldigt werden, sowie die Anwendung übermäßiger Gewalt durch die Strafverfolgungsbehörden aufgeführt.
In den ersten zehn Monaten ihres Regimes waren dem UNAMA-Bericht zufolge die Taliban für 237 außergerichtliche Tötungen, 113 willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sowie 118 Fälle von übermäßiger Gewaltanwendung verantwortlich. Hinzu kamen Menschenrechtsverletzungen gegenüber 163 Journalisten und Medienschaffenden und 65 Menschenrechtsaktivisten. Außerdem wurden von August 2021 bis Juni 2022 217 Fälle von grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Strafen gemeldet. Hierzu zählten auch Strafen für Menschen, die der Zina, also „moralischer Verbrechen“ wie z. B. unerlaubtem Geschlechtsverkehr, beschuldigt wurden. So wurden etwa am 14. Februar 2022 in der Provinz Badakhshan im Nordosten Afghanistans ein Mann und eine Frau wegen Ehebruchs zu Tode gesteinigt.
Im Dezember 2022 forderten die Vereinten Nationen die Taliban in einer Erklärung auf, die öffentlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen unverzüglich einzustellen. Zudem äußerten sie Zweifel an den Gerichtsverfahren, die zu diesen Bestrafungen führen und offenbar nicht die Grundlagen fairer Verfahrensweisen erfüllen.
Wie bereits erwähnt, gehen viele der Angriffe auf religiöse Minderheiten auf das Konto des afghanischen IS-Ablegers „Islamischer Staat in der Provinz Khorasan“. Am stärksten davon betroffen waren die schiitischen Hazara. Ein Beispiel jüngeren Datums war der Angriff auf ein Bildungszentrum im Kabuler Bezirk Dasht-e-Barchi. Am 30. September 2022 wurde die Bildungseinrichtung von einem Selbstmordattentäter zerstört. Dabei starben 54 Personen, zumeist junge Hazara-Frauen.
Nach Angaben von Human Rights Watch hat sich der IS seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zu 13 Anschlägen gegen Hazara bekannt und wird mit mindestens drei weiteren in Verbindung gebracht. Bei diesen Anschlägen wurden mindestens 700 Menschen getötet und verletzt. Da die Taliban insbesondere in den Provinzen zunehmend hart gegen Medien vorgehen, ist es wahrscheinlich, dass es noch weitere Anschläge gab, die aber nicht gemeldet wurden.
Zu den schwersten Angriffen gegen die Hazara zählte ein Selbstmordanschlag, der sich am 7. Oktober 2022 ereignete. Der Attentäter sprengte sich in einer Moschee in der nordöstlichen Provinz Kundus in die Luft und riss zahlreiche Gläubige mit in den Tod. Offenbar war es der dritte Angriff auf eine religiöse Stätte innerhalb von nur einer Woche gewesen. Zu dem Anschlag, bei dem zwischen 70 und 80 Menschen getötet worden sein sollen, bekannte sich abermals der IS. In der darauffolgenden Woche wurde während des Freitagsgebets in einer schiitischen Moschee in der Stadt Kandahar ein Sprengsatz gezündet. Bei dem Anschlag wurden über 40 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt.
Bis Anfang Oktober 2021 hatten die Taliban und mit ihnen verbundene Milizen laut Human Rights Watch bereits hunderte Hazara-Familien gewaltsam aus den Provinzen Helmand im Süden und Balkh im Norden vertrieben. Diesen Vertreibungen waren vergleichbare Entwicklungen in den Provinzen Daikundi, Uruzgan und Kandahar vorausgegangen. Eine Untersuchung von Amnesty International machte die Taliban für die brutale Ermordung von 13 Hazara – darunter ein 17-jähriges Mädchen – am 30. August 2021 in der Provinz Daikundi verantwortlich.
Auch Sufi-Gruppen wurden im Berichtszeitraum, insbesondere in den ersten Monaten des Jahres 2022, gezielt angegriffen. Am 29. April 2022 wurde in der Sahib-Khalifa-Moschee, einer der beliebtesten Stätten der Sufi in Kabul, nach dem Freitagsgebet ein Sprengsatz gezündet. In der Moschee befanden sich zu dem Zeitpunkt zahlreiche Gläubige, die mit Vorbereitungen für das Fest des Fastenbrechens (Eid al-Fitr) beschäftigt waren. Über 50 Personen wurden bei dem Anschlag getötet.
Kurz zuvor war bereits die sufistische Mawlawi-Sekandar-Moschee in der Provinz Kundus während des Freitagsgebets angegriffen worden, wobei mindestens 33 Menschen ums Leben kamen. Im August 2022 wurde ein bekannter Sufi-Gelehrter getötet. Nur eine Woche später ereignete sich ein weiterer Anschlag: Bei einer Explosion in der Siddiquiya-Moschee in Kabul wurden 21 Menschen getötet. Nach dem letzten Anschlag forderte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) die Taliban-Behörden auf, Maßnahmen zu ergreifen, um alle Formen des Terrorismus im Lande zu verhindern und die Hintermänner solcher Anschläge vor Gericht zu stellen.
Perspektiven für die Religionsfreiheit
Schon vor dem 15. August 2021 war Afghanistan nach 40 Jahren Krieg, wiederkehrenden Naturkatastrophen, chronischer Armut, Dürre und der Covid-19-Pandemie ein Land am Boden, in dem mehr als 24 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen waren. Die Koalitionstruppen haben während ihrer Zeit in Afghanistan nicht dafür gesorgt, dass die Menschenrechte geregelt, gefördert oder geschützt wurden. Auch kümmerten sie sich nicht um eine Registrierung von religiösen Minderheiten, so dass es keinerlei Aufzeichnungen über deren Existenz gibt. Entgegen anfänglicher Versprechen, die Menschenrechte zu achten und alle Menschen einzubeziehen, nimmt das Taliban-Regime den Afghanen die wenigen Rechte und Perspektiven, die sie hatten.
Intensive terroristische Aktivitäten verschlimmern die Lage weiter. Im Global Terrorism Index 2022 wird Afghanistan zum vierten Mal in Folge als das am stärksten von Terrorismus betroffene Land der Welt eingestuft. Die Aktionen der Gruppierung IS-Khorasan spielen hier eine wichtige Rolle. Nach einem anfänglichen Rückschlag nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban hat die Terrororganisation wieder an Schwung gewonnen, nicht zuletzt wegen der Freilassung zahlreicher Kämpfer, die in afghanischen Gefängnissen inhaftiert waren. Unter ihnen war auch der Selbstmordattentäter, der für den Anschlag auf den Kabuler Flughafen im August 2021 verantwortlich war. Gegenwärtig ist der IS-Khorasan in verschiedenen Teilen des Landes zunehmend aktiv und verübt Anschläge gegen ethnische und religiöse Minderheiten. Trotz Versprechungen haben die Taliban es nicht geschafft, diesen Angriffen Einhalt zu gebieten.
Was al-Qaida betrifft, bleibt abzuwarten, ob und wie sich die Organisation nach dem Tod ihres langjährigen Anführers Ayman al-Zawahiri neu positionieren kann. Al-Zawahiri galt als Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 und hatte nach der erneuten Machtergreifung der Taliban in Kabul Zuflucht gefunden. Er wurde am 31. Juli 2022 bei einem US-Drohnenangriff getötet.
Es liegt auf der Hand, dass die Situation der Minderheiten und der Religionsfreiheit sich seit der Machtübernahme durch die Taliban stark verschlechtert hat. Unter dem Regime kommt es zu systematischen Menschenrechtsverletzungen. Um Fereshta Abbasi, eine Forscherin bei Human Rights Watch, zu zitieren: „Religionsfreiheit gibt es in Afghanistan nicht.“