Gesetzeslage zur Religionsfreiheit und deren faktische Anwendung
Sunnitische Muslime machen bis zu 85 Prozent der afghanischen Bevölkerung aus. Der Rest sind zumeist Schiiten, darunter vor allem Mitglieder der ethnischen Gruppe der Hazara. Die Verfassung des Landes erkennt offiziell 14 Ethnien an, darunter u.a. Paschtunen, Tadschiken, Hazara. Die bedeutendste Gruppe sind die Paschtunen (geschätzte 42% der Bevölkerung), die hauptsächlich im Süden und Südosten leben. Gefolgt von den Tadschiken (ca. 27%), die im Norden und Nordosten des Landes leben.Die Anzahl an Nicht-Muslimen im Land ist verschwindend gering. Die Nichtregierungsorganisation „Nationalrat der Hindus und Sikhs“ (National Council of Hindus and Sikhs) gab im Dezember 2016 bekannt, dass weniger als 200 Familien (ca. 900 Menschen) im Lande verblieben seien, die diesen beiden Religionen angehörten. Über die Zahl anderer Gläubiger, wie Christen und Bahai, gibt es keine zuverlässigen Angaben, da sie ihre Religion nicht offen praktizieren. Die kleine jüdische Gemeinschaft, die in Afghanistan ansässig gewesen war, verliess das Land schon Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in Richtung Israel und Vereinigten Staaten. Es gibt Berichten zufolge einen einzigen verbliebenen Juden im Land.Artikel 62 der afghanischen Verfassung besagt, dass das Land eine Islamische Republik ist. Präsident und Vizepräsident des Landes müssen Muslime sein. Artikel 2 sieht vor, dass nicht-muslimische Gläubige ihre Religion im Rahmen der geltenden Gesetze frei ausüben dürfen. Artikel 3 besagt, dass kein Gesetz des Landes gegen die Lehren und Vorschriften der „heiligen Religion des Islams“ verstossen darf. Einige Gesetze und lokale Traditionen beschränken die Freiheit von religiösen Minderheiten. Blasphemie ist in Afghanistan ein Straftatbestand, der anti-islamische Schriften oder Rede einschliesst. Gemäss der islamischen Scharia legen Gerichte solche Straftaten als Kapitalverbrechen aus, welche mit der Todesstrafe geahndet werden, wenn der Angeklagte nicht innerhalb von drei Tagen seine Aussagen widerruft. Islamischer Religionsunterricht ist an staatlichen wie an privaten Schulen Pflicht.Konvertierung aus dem Islam hin zu einer anderen Religion wird als Apostasie verfolgt, wie von der sunnitischen Hanafi-Rechtschule vorgesehen. Auch in diesem Fall wird Apostasie nur bestraft, wenn die angeklagte Person ihre Abkehr vom Islam nicht innerhalb von drei Tagen widerruft. Als Strafe für die vom Islam konvertierte Person sieht die sunnitische Hanafi-Rechtsschule Hinrichtung, Inhaftierung oder Enteignung vor.Hindus und Sikhs sind seit 2016 im Parlament repräsentiert. Der afghanische Präsident Ashraf Ghani setzt sich für diese Gemeinschaften ein, u.a. durch Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche. Obwohl Hindus und Sikhs ihren Glauben öffentlich praktizieren können und durch die vom Präsidenten eingesetzten Vertreter im Parlament repräsentiert sind, können beide Gemeinschaften nicht ihre religiösen Bestattungsriten zelebrieren, da es im Land keine Krematorien gibt. Der Nationalrat der Hindus und Sikhs erklärte dazu, dass es immer, wenn Zeremonien in Wohngebieten stattgefunden hätten, zu Konflikten mit der muslimischen Nachbarschaft gekommen sei.Obwohl religiöse Minderheiten nicht explizit daran gehindert werden, Kultstätten zu errichten oder ihre Geistlichen auszubilden, existieren sehr wenige Orte der Anbetung für Minderheitsreligionen im Land. Es gibt keine öffentlichen christlichen Kirchen. Einrichtungen von Militärverbündeten und Botschaften stellen für Nicht-Afghanen Gebetsräume zur Verfügung.Das Christentum wird als eine westliche Religion angesehen und somit als nicht zu Afghanistan gehörig. Aus Sicherheitsgründen zelebrieren die im Land verbliebenen hinduistischen und christlichen Familien ihre religiösen Feiertage in Privaträumen. Kommt hinzu, dass ein generelles Misstrauen gegenüber Christen vorherrscht, welches besonders aufgrund der 10-jährigen Besatzung durch internationale Streitkräfte verstärkt wurde. Christen, die Muslime bekehren, wird offen feindselig begegnet. Afghanische Christen üben ihren Glauben allein oder in kleinen Gruppen in Privatwohnungen aus. Laut christlichen Missionarsorganisationen gibt es überall im Land kleine Hauskirchen im Untergrund, von denen jede nicht mehr als zehn Mitglieder hat. Obwohl religiöse Toleranz verfassungsmässig verankert ist, sind Christen, die ihre Religion offen leben, oder Muslime, die zum Christentum konvertieren, oft bedroht.Die Katholische Kirche ist in Afghanistan in Form einer Mission sui juris (Mission eigenen Rechts) präsent und ist bei der italienischen Botschaft in Kabul angesiedelt. Eine Mission sui juris ist eine territoriale Organisationseinheit, die weder Teil eines Ordens noch eines Vikariats oder einer Apostolischen Präfektur ist. Ihr erster Superior, der italienische Barnabitenpriester Pater Giuseppe Moretti, ging 2014 in den Ruhestand. Die Amtseinführung seines Nachfolgers, des italienischen Barnabitenpriesters Pater Giovanni Scalese, fand im Januar 2015 statt. Im Hinblick auf religiöse Orden gibt es drei Ordensschwestern der Kleinen Schwestern Jesu, die in der öffentlichen Gesundheitsversorgung arbeiten, fünf Schwestern aus dem von Mutter Teresa gegründeten Orden Missionarinnen der Nächstenliebe, die sich um Waisen und behinderte Kinder kümmern, sowie drei Schwestern der interkonfessionellen Gemeinde Pro Bambini di Kabul, die Waisen und behinderte Kindern unterrichten.Die afghanische Gemeinschaft der Bahai betreffend, existieren nur wenige Daten. Die Gemeinschaft lebt im Untergrund, seit die Generaldirektion für Fatwas und Finanzen[BH1] (General Directorate of Fatwas and Accounts) des Obersten Gerichtshof von Afghanistan im Jahr 2007 entschieden hatte, dass das Bahaitum Blasphemie und seine Anhänger somit Ungläubige seien.Wählerregistrierungen sowie das eigentliche Wählen bei den für Oktober 2018 anberaumten Parlamentswahlen sollen in Schulen, Gesundheitseinrichtungen und Gebetsstätten stattfinden. Man erwartete, dass gegen die Regierung gerichtete Extremisten Anschläge verüben würden. Zwischen dem 14. April, dem Beginn der Wählerregistrierungen für die Parlamentswahlen, und dem Erscheinen dieses Berichts registrierte die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 23 Zwischenfälle, die in Verbindung mit den Wahlen stehen. Bei diesen Zwischenfällen wurden 86 Zivilisten getötet, 185 verletzt – die meisten unter ihnen Frauen und Kinder – und 26 entführt.Sunnitische Extremisten verübten Bombenanschläge in schiitischen Wohngebieten, um sie für ihre vermeintliche Apostasie zu bestrafen. Im April 2018 wurden bei einem solchen Anschlag auf ein Wählerregistrierungszentrum in Kabul 57 Menschen getötet.Im Land ist die Gruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province) aktiv, ein Ableger der Terrororganisation Islamischer Staat IS). In dem 2017 veröffentlichten Bericht zur Religionsfreiheit des US-Aussenministeriums heisst es: „ISKP beschuldigt die schiitische Bevölkerung des Landes, Milizen beizutreten, die in Syrien und dem Irak gegen ISKP kämpfen. So rechtfertigen sie die Angriffe auf Schiiten. Darüber hinaus heisst es, sie stünden auf Seiten der Regierung. In Folge dieser Anschuldigung wurden Angriffe auf Sicherheitskräfte und Armeemitglieder verübt, die in schiitischen Moscheen beteten.“Die Besetzung des Landes durch US-Truppen im Jahr 2001 hatte es historisch benachteiligten ethnischen und religiösen Minderheiten – darunter vor allem Schiiten – ermöglicht, prominente Positionen im Verwaltung und Wirtschaft einzunehmen. Mittlerweile existieren geschätzt über 10.000 schiitische Moscheen im Land. Dieser sozio-politische Aufstieg der schiitischen Minderheit ist einer der Gründe, warum extremistischen Gruppen sie weiterhin ins Visier nehmen. Für die Extremisten sind Schiiten Apostaten, „die es zu töten gilt“. Im März 2016 sagte der ehemalige US-Aussenminister John Kerry zum Thema des Extremismus im Nahen Osten: „Es ist eine Tatsache, dass [IS] Christen tötet, weil sie Christen sind; Jesiden weil sie Jesiden sind; Schiiten weil sie Schiiten sind.“Milizen, ehemalige Anführer der Taliban, einige Rückkehrer aus Syrien, sowie afghanische mit IS verbundene Gruppen wie ISKP führen weiterhin Anschläge gegen schiitische Moscheen und Wohngegenden durch. Diese Situation hat die Präsenz von IS in Afghanistan verstärkt.[BH1] Grosse schiitische Moscheen waren Ziel von Anschlägen, darunter die Al Zahra Moschee in Kabul und die Imam Mohammad Baqir Moschee in Herat.Vorkommnisse
Zwischen Januar 2016 und November 2017 registrierte die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 51 Angriffe, die mit Verstössen gegen die Religionsfreiheit verbunden waren. Darunter waren Angriffe auf Menschen (Morde, Entführungen, Einschüchterung) und Gebetsstätten. Innerhalb dieses Zeitraums kamen bei Angriffen 850 Zivilisten zu Schaden, darunter 273 Todesopfer und 577 Verletze. Das heisst, die Zahl der zivilen Opfer hat sich im Vergleich zu den sieben Jahren von 2009 bis 2015 fast verdoppelt.Im Juni 2016 entführten die Taliban 17 schiitische Mitglieder der Hazara als Rache dafür, dass die afghanische Regierung einen ihrer lokalen Anführer verhaftet hatte. Die Entführten wurden später wieder freigelassen. Im Juli 2016 verübten zwei IS-Selbstmordattentäter einen Bombenanschlag auf eine Demonstration der schiitischen Hazara in Kabul. Dabei wurden mindestens 80 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt.Am 11. und 12. Oktober 2016 kam es zu zwei separaten Anschlägen auf die schiitische Gemeinschaft, die gerade das Aschura-Fest feierte. Dieser Tag des Fastens markiert sowohl den Tag, an dem Noah seine Arche verliess, wie auch Moses Auszug aus Ägypten. IS übernahm die Verantwortung für die Anschläge. Der erste Anschlag zielte auf den Karte- Schrein in Kabul – 19 Menschen starben und Dutzende wurden verletzt. Am nächsten Tag detonierte eine Bombe an der Moschee in Khoja Gholak in der Provinz Balkh – 14 Menschen starben und 30 wurden verletzt. Die meisten der Opfer waren Kinder.Im gleichen Monat entführte und tötete IS 30 Zivilisten aus der überwiegend schiitischen Provinz Ghor.Im November 2016 verübte ein weiterer IS-Selbstmordattentäter einen Bombenanschlag in Kabul, bei dem mindestens 32 Betende getötet und über 50 verletzt wurden. Die schiitische Gemeinschaft feierte zu dem Zeitpunkt das al-Arba'in-Fest, welches 40 Tage nach Aschura stattfindet.Am 20. Oktober 2017 verübte ein ISKP zugehöriger Selbstmordattentäter einen Anschlag auf die schiitische Imam-e-Zaman-Moschee in Kabul, bei dem 57 Betende getötet und 55 verletzt wurden. Unter den Opfern waren Frauen und Kinder, da eine Granate in den Frauenbereich der Moschee geworfen wurde. Im Inneren der Moschee zündete der Angreifer seine Sprengstoffweste.Im Dezember 2017 verübte ISKP einen Anschlag gegen das von Schiiten besuchte Tabayan Kulturzentrum in Kabul, bei dem 41 Menschen getötet wurden. Im gesamten Jahr 2017 wurden mindestens sieben Attentate auf Schiiten verübt, bei denen fast 150 Menschen ums Leben kamen und 300 verletzt wurden. Solche Attentate werden häufig an schiitischen religiösen Festen verübt, beispielsweise an den Festen Lailat al-Qadr, Aschura, Muharram oder dem Geburtstag von Hazrat Mahdi.Im Jahr 2017 wurden 13 Bergleute einer Kohlemine ermordet, da sie Schiiten aus der Hazara-Ethnie waren. Ausserdem enthauptete ISKP drei weitere schiitische Hazara.Im April 2018 griffen militante Gruppen „schiitische Apostaten“ an, u.a. an einem Wählerregistrierungszentrum in der Hauptstadt Kabul. 57 Menschen wurden getötet – darunter 22 Frauen sowie acht Kinder – und über 100 weitere wurden verletzt. In einer Erklärung, die von der zu IS gehörigen Aamaq-Nachrichtenagentur veröffentlich wurde, übernahm der IS die Verantwortung für den Angriff.Perspektiven für die Religionsfreiheit
Die Religionsfreiheit wird theoretisch von der Verfassung des Landes garantiert, praktisch ist die Situation von Nicht-Muslimen in Afghanistan jedoch sehr schwierig. Die Ausrichtung des Landes auf den Islam führt zu einer starken Ausgrenzung anderer Glaubensrichtungen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den Gesetzen des Landes. Während des Berichtszeitraums konnten Verbesserungen für einige religiöse Minderheiten festgestellt werden, die Gesamtsituation ist jedoch besorgniserregend. Die konstant ansteigende Gewalt von militanten Gruppen, die schiitische Kultstätten und Geistliche angreifen, bereitet ebenfalls grosse Sorgen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wird ein Anstieg der Terrorakte im Land erwartet, da im Oktober 2018 Parlamentswahlen anstehen. Das faktische Verbot, aus dem Islam zu konvertieren, sowie die möglichen schweren Strafen, die darauf stehen, sind besorgniserregend. Als Reaktion auf die Angriffe extremistischer sunnitischer Gruppen, hat die afghanische Regierung versucht, die Sicherheitslage zu verbessern. Zivilisten, die in der Nähe von schiitischen Moscheen leben, wurden Waffen angeboten. Dadurch, dass die Extremisten während religiösen Festen Attentate auf Moscheen verüben, versuchen sie, die schiitischen Hazara an der freien Ausübung ihres Glauben zu hindern.Ausserdem konnte ein Anstieg von Angriffen auf progressive religiöse Kräfte festgestellt werden, insbesondere auf religiöse Führer, die sich in inter-religiösen Kommissionen engagieren, sowie an Treffen von Stammes- und muslimischen Führern teilnehmen. Regierungs- sowie Nichtregierungsorganisationen haben zwar Initiativen gestartet, um für Verständigung zwischen Schiiten und Sunniten zu sorgen, die Teilnehmenden waren 2017 aber häufiger Angriffen ausgesetzt als in den Vorjahren.Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan registrierten 11 Attentate auf religiöse Führer in der ersten Hälfte des Jahres 2017. Im gesamten Jahr 2016 waren es lediglich zwei gewesen. Dieser Trend deutet auf den sich verschlimmernden Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten hin, sowie auf die allgemeinen Instabilität des Landes, die zu grossem Teil auf religiösen Unterschieden beruht.„Die Religionsfreiheit wird theoretisch von der Verfassung des Landes garantiert, praktisch ist die Situation von Nicht-Muslimen in Afghanistan jedoch sehr schwierig. Die Ausrichtung des Landes auf den Islam führt zu einer starken Ausgrenzung anderer Glaubensrichtungen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den Gesetzen des Landes.“