Interview mit dem ehemaligen EU-Sonderbeauftragten für Religionsfreiheit Ján Figel‘
Am 22. August wurde zum zweiten Mal nach seiner Einführung durch die Vereinten Nationen im Jahr 2019 der „Internationale Gedenktag für die Opfer von Gewalt aufgrund von Religion oder Glauben“ begangen. Die Bilanz bezüglich der Lage der weltweit aufgrund ihrer Religion verfolgten Menschen ist nicht gerade positiv. Das Internationale Hilfswerk Aid to the Church in Need (ACN) sprach darüber mit dem slowakischen Politiker Ján Figel‘, dessen Mandat als Sonderbeauftragter der Europäischen Union für Religionsfreiheit erst kürzlich auslief.
Was denken Sie über den Internationalen Gedenktag für die Opfer von Gewalt aufgrund von Religion oder Glauben?
Der Internationale Tag zum Gedenken an die Opfer religiöser Verfolgung ist für den Veranstaltungskalender internationaler Gedenkfeiern deshalb von großer Wichtigkeit, weil es viele Opfer religiöser Verfolgung gibt; wir können von Hunderten Millionen Menschen ausgehen. Die Verfolgung aufgrund der Religion nimmt in der Welt zu, viele weitere Millionen Menschen werden aufgrund dessen diskriminiert. Es ist etwas sehr Schmerzhaftes, dass es noch heute in der Welt Opfer von regelrechtem Völkermord gibt. In der Vergangenheit wurde die Religionsfreiheit in internationalen Abkommen oft vernachlässigt, übergangen oder kaum gewürdigt, doch heute ist die Religions- und Glaubensfreiheit der Lackmustest für den Status der Menschenrechte.
Wie ließe sich dieser Tag am besten begehen?
Sehr wichtig sind die Zeugnisse von Überlebenden religiöser Verfolgung. Es wurden Demonstrationen, Konferenzen, Online-Sitzungen, Seminare und Webinare veranstaltet. Diese Veranstaltungen sollten in erster Linie dazu dienen, in uns das Bewusstsein für die Bedeutung der Religionsfreiheit für alle Menschen zu schärfen und der Opfer religiöser Verfolgung zu gedenken. Denn wer das Gedächtnis verliert, verliert seine Identität und seine Orientierung. Zum zweiten ist es sehr wichtig, sich auf eine Erziehung zum Zusammenleben in Vielfalt zu konzentrieren, denn zusammen zu leben ist viel mehr als nur zusammen zu existieren. Und drittens müssen Staaten und nationale Behörden Gerechtigkeit für alle fördern, denn Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit. Zum Beispiel sind gleiche Bürgerrechte ein großartiger Ausdruck der Gleichheit für alle, sowohl für die Mehrheit der Gesellschaft als auch für Minderheiten.
Welche Erfahrungen haben Sie als junger Mensch in einem kommunistischen Land gemacht, unter dem sowjetischen Regime der ehemaligen Tschechoslowakei?
Mein halbes Leben habe ich ohne Freiheit gelebt. Es war wirklich eine unmenschliche Situation und eine sehr schwierige Zeit. Ich heiße Ján Figel wie mein Onkel, der Bruder meines Vaters, der in den 1950er Jahren vom Geheimdienst des damaligen stalinistischen Staates Tschechoslowakei ermordet wurde. Freiheit ist ein Ausdruck der Menschenwürde, und die Menschenwürde ist die Grundlage aller Menschenrechte. Die Freiheit des Menschen zu verleugnen, bedeutet daher, die Menschenwürde zu verleugnen.
Warum ist es wichtig, die Religionsfreiheit zu schützen?
Die Religions- oder Glaubensfreiheit ist der höchste Ausdruck der Freiheit. Sie wird definiert als Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Daher ist sie für Gläubige und Nicht-Gläubige gleichermaßen wichtig. Es ist ein zentrales Menschenrecht und ein weitreichendes Recht, weil es mit der Freiheit der Meinungsäußerung, der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verbunden ist. Wird die Religionsfreiheit unterbunden, so werden auch andere Rechte und Freiheiten unterdrückt. Deshalb müssen wir mehr denn je für Religionsfreiheit sorgen, nicht nur, weil sie andere Rechte berührt, sondern weil sie der Lackmustest für alle anderen Menschenrechte ist.
Wie können wir die Religionsfreiheit und die Menschen verteidigen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden?
Es ist unsere Pflicht, die Opfer von Verfolgung zu schützen. Es ist unsere menschliche Verantwortung, aber es liegt auch im grundlegenden Interesse aller. Wir müssen uns der Bedeutung der Religionsfreiheit stärker bewusst werden. Die Medien sollten viel mehr über diese Situationen und Themen berichten. Es liegt in unserer Verantwortung, denjenigen eine Stimme zu geben, die keine Stimme haben und sich nicht verteidigen können. Ich möchte an die internationale Gemeinschaft appellieren: Die Welt braucht heute einen „Klimawandel“ in Fragen der Religionsfreiheit, denn die Situation ist sehr negativ und leidvoll. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt leiden unter religiöser Verfolgung, und der Trend ist besorgniserregend. Diese beiden schlimmen Tatsachen sollten in der internationalen Gemeinschaft ein größeres Bewusstsein für die Achtung der Religionsfreiheit und die Verteidigung der Menschenwürde für alle Menschen überall auf der Welt wecken.