Haiti: „Wir müssen unsere Angst überwinden, um Hoffnung zu bringen“

Seit Monaten wird Haiti von Banden heimgesucht, die die Bevölkerung ausplündern, entführen und terrorisieren, täglich kämpft das Land ums Überleben. Im Herzen dieser Not bleibt die Kirche ein Leuchtturm der Hoffnung, wie Pater Baudelaire Martial, Priester der Kongregation vom Heiligen Kreuz, bei seinem Besuch am Hauptsitz des internationalen Hilfswerks Aid to the Church in Need (ACN) bezeugte.

Pater Baudelarie Martial, haitianischer Priester der Kongregation vom Heiligen Kreuz, bei einem Besuch in der ACN-Zentrale im Juli 2024
Pater Baudelarie Martial, haitianischer Priester der Kongregation vom Heiligen Kreuz, bei einem Besuch in der ACN-Zentrale im Juli 2024

ACN: Achtzig Prozent der Hauptstadt sowie die Hauptverkehrsstraßen des Landes werden von Banden kontrolliert. Wie ist die Sicherheitslage heute in Port-au-Prince?

Die Situation heute in Port-au-Prince ist inakzeptabel, unerträglich und unvorstellbar. Wir leben unter sehr prekären Bedingungen. Die Menschen hungern und es mangelt an Medikamenten. Viele Ärzte wurden entführt. Einige Schulen sind geschlossen, die Lehrer erhalten einen Hungerlohn und der Tourismus ist zum Erliegen gekommen. Insbesondere der Badeort Labadee im Norden des Landes ist geschlossen. Der Agrarsektor hat mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen. So wurden beispielsweise die Reisfelder im Departement Artibonite von schwer bewaffneten Banden überfallen. Insgesamt ist die Sicherheitslage im Land sehr kompliziert. Mit jedem Augenblick werden wir ärmer.

Glauben Sie, dass sich die Situation mit der kürzlich erfolgten Ankunft der von den Vereinten Nationen unterstützten Eingreiftruppe unter kenianischem Kommando verbessern kann?

Ja, wir hoffen, dass es mithilfe der kenianischen Sicherheitskräfte wieder aufwärts geht. Die Angst wechselt die Seiten, die Banden beginnen zu verhandeln, und schon seit einigen Tagen ist die Lage scheinbar ruhiger geworden. Aber wir fordern mehr als nur eine scheinbare Ruhe, wir fordern die Befreiung von Port-au-Prince und allen entlegenen Ecken Haitis, damit wir wieder wie früher leben können. Neulich wurde das große Zentralkrankenhaus in Port-au-Prince wieder von den staatlichen Behörden übernommen, was ein erster Schritt ist.

Haiti hat gerade den dritten Jahrestag der Ermordung seines Präsidenten Jovenel Moise „gefeiert“. Wie ist die politische Lage heute? Können in den kommenden Monaten Wahlen organisiert werden?

Im Moment ist die Priorität aller Haitianer die Sicherheit, sogar noch vor dem Bedürfnis zu essen! Danach wird die Zeit für eine Verfassungsreform kommen, dann die Einleitung eines Wahlprozesses und schließlich freie, ehrliche und demokratische Wahlen. Laut der unterzeichneten Vereinbarung über die Einsetzung der Regierung hat der Präsidiale Übergangsrat zwei Jahre Zeit, um dies zu organisieren, aber ohne Sicherheit kann man nichts tun.

In den letzten Jahren wurden mehrere Ordensleute entführt. Ist die Kirche besonders im Visier dieser Banden?

Ja, ich habe das Gefühl, dass es eine organisierte Kampagne gegen die Kirche gibt, weil so viele Priester und Ordensschwestern Opfer der Banden sind! Allein in meiner Gemeinschaft wurde ein Priester entführt und wir mussten Lösegeld zahlen, damit er freigelassen wurde. So viele Diözesen und Gemeinschaften leiden unter Diebstählen, Übergriffen… Sie setzen die Kirche unter Druck, um uns zum Schweigen zu bringen, aber unsere prophetische Mission ist es, das Schlechte anzuprangern, das, was nicht in Ordnung ist. Wir wissen, dass wir aufgrund unserer Position ein Risiko eingehen, aber wir nehmen unser Kreuz auf uns. Als Kirche müssen wir den Glauben und den Mut haben, die Bevölkerung, die Leidenden zu begleiten, und wir werden dies auch weiterhin tun, selbst wenn wir dabei unser Leben riskieren.

Und Sie selbst, die Sie in Port-au-Prince leben, haben Sie manchmal Angst?

Wissen Sie, wenn man rausgeht, weiß man nicht, ob man wieder nach Hause kommen wird. Manchmal musste ich mich auf den Boden werfen, um Projektilen auszuweichen. Man hört den ganzen Tag lang das Geräusch von automatischen Waffen. Ja, wir haben Angst, aber wir müssen für unser Volk da sein und es begleiten. Wir leiden, aber wir sind dazu berufen, über dieses Leiden hinauszugehen und zu hoffen.

Wie sieht die Situation im Besonderen für die Jugendlichen aus?

Die Jugendlichen leben in Angst und Schrecken. Allein im „Foyer de l’Esperance“ (Heim der Hoffnung), einem sozialen Heim für Jugendliche, das ich leite, wurde ein zwölfjähriges Mädchen getötet, ein anderes wurde brutal angegriffen… Eine Reihe von Schulen sind geschlossen… Zum Glück können einige Schulen dank all dem, was während der Covid-Pandemie organisiert wurde, den Unterricht online abhalten… Wir haben das Schuljahr jetzt so gut wie möglich abgeschlossen und hoffen, dass das nächste besser wird.

Die Erziehung ist in dieser Krise sehr schwierig geworden, was vor allem die Jugend betrifft
Die Erziehung ist in dieser Krise sehr schwierig geworden, was vor allem die Jugend betrifft

Können die Gläubigen in Port-au-Prince gefahrlos zur Messe gehen?

Viele Pfarreien sind geschlossen. Einige Pfarreien wie die der Kathedrale befinden sich in den Kampfgebieten. Daher fand auch die Chrisam-Messe in diesem Jahr in der Kirche Notre-Dame d’Altagrâce in Delmas statt, anstatt in der Kathedrale. Andere Gebiete sind zugänglich und dort versammeln sich die Gläubigen in den offen gebliebenen Pfarreien. Wir haben auch wieder eine Online-Seelsorge eingerichtet. Der Glaube bleibt lebendig. Zur Messe am Gründonnerstag beispielsweise kam eine riesige Menschenmenge auf eigenes Risiko.

Was gibt Ihnen im Alltag Hoffnung?

Angesichts all dieser Schwierigkeiten versuchen wir als Hirten trotz allem eine Hoffnung aufrechtzuerhalten. Zum Glück ist die Kirche da, um die Bevölkerung zu begleiten. Einige sind traumatisiert, haben schwere Verletzungen und Vergewaltigungen erlebt, aber mit der Zeit lässt das etwas nach. Die Angst ist immer noch da, aber als Kirche haben wir nicht das Recht, aufzugeben, wir müssen immer nach vorne schauen und die Hoffnung weitertragen.

Was ist Ihre Rolle als Priester?

Inmitten des Chaos fühlen sich die Priester verpflichtet, ihren Gemeindemitgliedern Hoffnung zu vermitteln
Inmitten des Chaos fühlen sich die Priester verpflichtet, ihren Gemeindemitgliedern Hoffnung zu vermitteln

Als Priester muss ich Zeugnis ablegen. Diese Krise ist auch eine Gelegenheit, diejenigen zu lieben und zu unterstützen, die sich in Schwierigkeiten befinden, die in Not sind. Denn es ist unsere Verantwortung, sie zu begleiten und ihnen zu helfen, damit sie wieder Hoffnung schöpfen können.  Ich bin außerdem seit 15 Jahren Verwalter des CIFOR (Centre Inter-instituts de Formation Religieuse – Institutionsübergreifendes religiöses Ausbildungszentrum). Dort bilden wir mit der Hilfe von ACN insbesondere Seminaristen aus, nicht nur in ihrer intellektuellen, sondern auch in ihrer menschlichen und spirituellen Dimension.

Haben Sie eine besondere Botschaft an die Wohltäter, die Haiti unterstützen?

Zunächst möchte ich den Wohltätern von ACN danken, denn dank ihrer Hilfe schafft es die Kirche in Haiti, ihre prophetische Rolle zu spielen! Wir danken Ihnen von ganzem Herzen, denn ohne ACN wäre die Not in Haiti noch größer, ohne die Begleitung von ACN für die Seminaristen wäre unsere Situation noch düsterer. Vielen, vielen Dank.

Im Jahr 2023 unterstützte ACN die Kirche in Haiti durch 55 Projekte mit mehr als 800 000 €. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Krise finanzierte das Hilfswerk unter anderem die Ausbildung zukünftiger Priester und unterstützte Ordensschwestern durch Existenzhilfe sowie Priester durch Mess-Stipendien. ACN unterstützt auch seit vielen Jahren die Ausbildungsprogramme des CIFOR, das jungen Ordensleuten eine auf die Bedürfnisse des geweihten Lebens zugeschnittene Ausbildung bietet.

 

Von Amélie Berthelin.

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